THEMA | Schmerz

Seelische Traumatisierung und Schmerz

Bei vielen Menschen, die mit chronischen, therapieresis- tenten Schmerzen Hilfe suchen, zeigt sich im Rahmen der biographischen Anamnese ein Traumakontext. Die Erfahrung aus der Arbeit mit Menschen, die primär mit einer Traumafolge-störung in die Psychotherapie kom- men, zeigt, dass die meisten Betroffenen

auch über Schmerzen oder andere körperliche Sympto- me klagen.

Foto: adobe stock/ John Gomez

Schon der russische Schriftsteller Fjodor Michailowitsch Dostojewski formulierte treffend: „Es gibt schmerzhafte Erinnerungen, die uns wirklichen, körperlichen Schmerz verursachen.“ Menschen, die traumatische Erfahrungen überlebt haben, fühlen sich „nicht mehr ganz“, zerbrochen, frag- mentiert. Schmerz ist ein vertrauter Begleiter jedweder Art von Traumatisierung, auch wenn es scheinbar keine körperliche Ursache (mehr) gibt. Wird das unbewältigte Trauma erkannt und im Körper aufgelöst, verschwinden die meisten Schmerzzustände allmählich.

Wenn im Rahmen der Diagnostik auf einer Abbildung des menschlichen Körpers aktuelle oder chronische Schmerzen eingezeichnet werden, so markieren Betroffene häufig mehrere schmerzende Stellen und sind von einem Zusammenhang mit einem Trauma oder Traumatisierungen über- zeugt. Dies zeigt sich insbesondere bei Schmerzen, für die es keine ausreichende körperliche Erklärung gibt oder die auf Schmerzmittel nicht an- sprechen. Es ist möglich, dass ein Schmerz, der im Traumakontext erlebt wurde, Jahre später – wie aktuell schmerzend – wiederempfunden wird. Dabei handelt es sich um einen sogenannten Memory-Schmerz oder Schmerz-Flashback, einen Fehlalarm unseres Schmerzsystems, eine Erinne- rungsattacke.


Zusammenhänge zwischen Trauma und Schmerz

Studien an Patienten mit chronischen Schmerzen, insbesondere solchen mit somatoformen Schmerzen oder sehr hoher Schmerzchronifizierung und psychischer Komorbidität, zeigen eine deutliche Häufung früherer Traumata im Vergleich mit schmerzfreien Kontrollpatienten oder Patienten mit chronischen, primär organisch bedingten Schmerzen. Die Schmerzforschung konnte in den letzten Jahren eindeutig zeigen, dass belastende Lebensereignisse auch ohne die Entwicklung einer vollständigen PTBS-Symptomatik einen entscheidenden Einfluss auf die Schmerzverarbeitung und die Schmerzmodulation bei den Betroffenen haben.

Ein traumatisierendes Ereignis kann als Prädiktor für chronische Schmerzen betrachtet werden. Traumatisierungen, die mit physischen Verletzun- gen und Schmerzen einhergehen, haben ein deutlich erhöhtes Risiko, zu posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS/kPTBS) zu führen. Kern- symptome der PTBS sind das Wiedererleben in der Gegenwart, das Vermeiden von mit dem Trauma zusammenhängenden Situationen, Gefühlen, Kontakten sowie Hyperarousal/Übererregungssymptome. Bei einer komplexen Posttraumatischen Belastungsstörung (kPTBS) kommen zu diesen Kernsymptomen umfassende Störungen in folgenden Bereichen dazu:

•Affektives Funktionieren: Affektive Fehlregulation, erhöhte emotionale Reagibilität, gewalttätige Ausbrüche, Tendenz zu dissoziativen Zuständen und Belastung

•Funktionieren des Selbst: Überzeugung von sich selbst als schwach, zerbrochen und wertlos: generalisierte Gefühle von Scham, Schuld …

•Beziehungsfunktionen: Schwierigkeiten, Beziehungen aufrechtzuerhalten oder sich anderen nahe zu fühlen


Im Überlebensmodus feststecken

Nicht jede Traumatisierung führt automatisch zu einer Traumafolgestörung. Die Lebenszeitprävalenz für eine PTBS (ICD-10) liegt in der Allgemein- bevölkerung bei Männern bei fünf bis sechs Prozent, bei Frauen bei zehn bis 14 Prozent. Dabei handelt es sich um die vierthäufigste psychische Störung. Für die kPTBS liegt die Prävalenz bei 0,5 Prozent beziehungsweise 1,5 Prozent. Ein Trauma führt nur sehr selten – bei etwa zehn Prozent der Fälle – zum Vollbild einer PTBS. Die PTBS ist die am häufigsten diagnostizierte Traumafolgestörung. Die Betroffenen erkranken in der Regel zu 80 Prozent an mindestens einer weiteren psychischen und physischen Erkrankung. Bei einem Trauma und einer einhergehenden körperlichen Ver- letzung ist das PTBS-Risiko achtmal höher als bei Betroffenen von verletzungsfreien Traumata. Nicht verarbeitete Traumatisierung ist nicht nur eine Ursache, sondern häufig auch ein aufrechterhaltender Faktor chronischer Schmerzen.

Menschen, die ein schweres Trauma erlebt haben, bleiben oft in einem oder mehreren Verhaltensmustern, die mit der Reaktion auf Angriff, Flucht und Erstarrung zusammenhängen, stecken. Bei chronischem Ärger ist der Körper ständig im Kampfmodus, bereit zu Angriff und Verteidigung. Das Zurückhalten staut sich im Körper in Form von Muskelanspannungen und Schmerz und verhindert den Ausdruck von gesunden Aggressio- nen. Ebenso gibt es Zusammenhänge zwischen dem Gefühl Angst und der Fluchtreaktion sowie zwischen Hilflosigkeit und Erstarren. So zeigen etwa Soldaten, die aus Kriegsgebieten zurückkommen, oft Symptome von übermäßiger Wut und Aggression. Das ist ein Zeichen dafür, dass sie in der Angriffsreaktion festgefahren sind.

Bei anderen Formen von Traumatisierung, etwa bei sexualisierter Gewalt können die Hauptschwierigkeiten in Immobilität und Erstarren liegen, vor allem, wenn die Ereignisse bis in die frühe Kindheit zurückführen. Kinder, die über längere Zeit bedroht und/oder belästigt wurden, zeigen oft Hilf- losigkeit, Hoffnungslosigkeit oder depressive Symptome, die mit der Erstarrungsreaktion zusammenhängen. Sie konnten nicht fliehen und sich nicht wehren. Sie tendieren dazu, zusammenzubrechen und sich dafür schuldig zu fühlen und sich zu schämen.


Bio-psycho-soziales Schmerzverständnis

Chronische Schmerzen treten auf, wenn bisherige Bewältigungsstrategien erschöpft sind oder weite- re Belastungen hinzukommen oder sich etwas in ähnlicher Weise wiederholt und das Alte erinnert wird. Oft sind Traumatisierungen nicht erinnerlich, der Schmerz kann aufgrund einer psychosozialen Stresssituation oder der Reaktivierung eines solchen in der Vergangenheit liegenden Ereignisses auf- treten. Das Ausblenden biografischer Zusammenhänge kann dazu führen, dass eine Behandlung nicht ausreichend greift, daher ist ein bio-psycho-soziales Schmerzverständnis wichtig.


Therapeutische Interventionen

Wird das unbewältigte Trauma erst einmal erkannt und im Körper aufgelöst, dann können viele Schmerzzustände gelindert werden oder ganz verschwinden. Ein erster Ausblick auf therapeutische Interventionen besteht aus dem Erarbeiten der grundlegenden Fähigkeit, sich den Emotionen zu stel- len, ihnen im Körper nachzuspüren, ohne sie sofort abreagieren, verdrängen oder vermeiden zu wol- len. Das Zurückhalten staut sich im Körper in Form von Muskelanspannungen und Schmerz. Es ist wichtig für Klienten zu lernen, diesen heftigen Gefühlen standzuhalten und damit präsent zu bleiben, sich die körperliche Reaktion bewusst zu machen, so wie sie ist, und sie damit zu verarbeiten.

Den meisten Menschen widerstrebt es, in die Vergangenheit zu schauen, wenn sie mit ihren Schmer- zen zur Therapie kommen. Es ist wichtig, ihnen zu vermitteln, dass der augenblickliche Schmerz mit früheren Traumatisierungen zusammenhängen könnte. Durch die Beschreibung des Teufelskreises oder der Anteile des Schmerzes kann oft das Verständnis geweckt werden, dass es weiter zurücklie- gende Ursachen gibt, die Beachtung finden sollten. Das muss nicht unbedingt heißen, dass der Kli- ent mit allen früheren bedrohlichen Erfahrungen noch einmal konfrontiert werden muss. Oft ist es besser, mit den aktuellen Schmerzmustern zu arbeiten oder Muster zu erkennen, die eine Geschichte haben. Um Schmerzen aufzulösen, muss mit den emotionalen Schmerzaspekten, den körperlichen Empfindungen und mit den hinderlichen gedanklichen Überzeugungen gearbeitet werden. Die The- rapie der traumabedingten Schmerzen kann angelehnt an das Phasenmodell der Traumatherapie (Stabilisierung – Konfrontation – Integration) ebenfalls im Rahmen eines Phasenmodells (Selbstregu- lierung – Transformation – Resilienz) geplant werden.

Therapieziele sind die Schmerzlinderung, ein verbessertes Schmerzcoping, die Stabilisierung sowie die Alltagstauglichkeit. Im Rahmen einer Traumatherapie werden die zugrundeliegenden Traumatisie- rungen bearbeitet und die Traumafolgestörungen behandelt. Ziel ist es, die fragmentierten Erinnerun- gen zu integrieren und Zukunftsperspektiven zu erarbeiten. In der kognitiven Therapie wird beispiels- weise überlegt, wie der Ärger unter Kontrolle zu bekommen ist, wie man ihn adäquat äußert. In emo- tional basierten Therapien wird Wert darauf gelegt, dass der Ärger zum Ausdruck gebracht oder los- gelassen wird.