Covid-Update | Post-Covid

Foto: istockphoto/ Franky DeMeyer, KLAUS RANGER

„Die Dimension

ist schwer einschätzbar“

Nach aktuellen Schätzungen könnten 10–20 % aller Covid-Infizierten von Langzeitfolgen betrof- fen sein. Vor allem jüngere Menschen und Frau- en leiden darunter. Eine aktuelle Leitlinie soll Ärzten in der Primärversorgung Unterstützung bieten.

So neuartig wie die Herausforderungen, die die aktuelle Pandemie bisher mit sich gebracht hat, so präsentieren sich auch die Folgen, mit denen viele Betroffene auch noch lange nach einer überstandenen Infektion zu kämpfen haben. Wie viele das sind, ist aber unklar. Langzeitfolgen nach einer akuten Covid-Erkrankung sind diffus und komplex – in der Literatur werden über 200

Symptome beschrieben. Darunter sind Atemnot, anhaltender Husten, Verlust des Geruchs- und Geschmackssinns, Muskel- schmerzen und starke Erschöpfungszustän- de (Fatigue-Syndrom) bis hin zu Depressio- nen. Schon allein das macht eine Einschät- zung der Zahl der Betroffenen schwierig, denn manche dieser Symptome können, müssen aber nicht die Folge der Covid-In- fektion sein. Dazu kommt eine eher dünne Studienlage. Auch die Herausforderungen

für die Diagnose, Therapie oder Rehabilitation sind weitaus komplexer als bei vergleichbaren und gut beforschten Infektionserkrankungen.


Leitlinie: Einfache Handhabung

Für eine Hilfestellung in der Praxis hat sich daher eine Reihe einschlägiger medizinischer Fachge- sellschaften eingesetzt. Niedergelassene Ärzte sollen beim Erkennen der Symptome sowie eines möglichen Zusammenhangs mit einer Sars-CoV-2-Infektion unterstützt werden. In weiterer Folge gilt es, den Schweregrad der Erkrankung einzuschätzen sowie die Frage zu beantworten, wann und ob eine weitere Abklärung notwendig ist.

Hauptzielgruppe der neuen Leitlinie sind hausärztli- che Primärversorger und andere medizinische Erst- kontakteinrichtungen sowie Ärzte, die mit von Long- Covid möglicherweise betroffenen Personen befasst sind. Die Leitlinie ist auf Basis eines breiten Konsen- ses zwischen der Österreichischen Gesellschaft für Allgemein- und Familienmedizin (ÖGAM), der Öster- reichischen Gesellschaft für Pneumologie (ÖGP), der Österreichischen Kardiologischen Gesellschaft (ÖKG), der Österreichischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendheilkunde (ÖGKJ), der Österreichischen Gesellschaft für Neurologie (ÖGN), der Österreichi- schen Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde, Kopf- und Halschirurgie (ÖGHNO), der Österreichi- schen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik (ÖGPP) sowie der Österreichi- schen Gesellschaft für Infektionskrankheiten und Tro- penmedizin (OEGIT). Schon allein die Zahl der invol- vierten Experten und die Komplexität des Themas zeigt, welcher Kraftakt hier gelungen ist. Einblick in die Entwicklung und Anwendung der Leitlinie gibt Dr. Susanne Rabady.


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Nachgefragt bei …



… Dr. Susanne Rabady, Ärztin für Allgemeinmedizin, Leiterin des Departments für Allgemein- und Familienmedizin, Karl-Landsteiner Privatuniversität für Gesundheitswissenschaften, Krems, und Vize- präsidentin der ÖGAM

Gibt es eine Einschätzung, wie viele Österreicher betroffen sind?

Wir haben keine genauen Zahlen, denn es gibt keine Möglichkeit, die Betroffenen vollständig zu erfassen. Viele werden im niedergelassenen Bereich behandelt, aber die Diagnose nicht als solche erfasst. Wir können nur aus den Daten zur Prävalenz extrapolieren und das ist natürlich mit einer ent- sprechenden Unschärfe behaftet. Schätzungen gehen aktuell von 10 bis 20 % aus, das hängt aber auch ganz stark von der zugrunde liegenden Defi- nition ab. Unschärfen gibt es auch, weil sich nicht alle Betroffenen in ärztliche Behandlung begeben und daher nicht erfasst sind. Für den niederge- lassenen Allgemeinmediziner heißt das vor allem, dass er genau nachfragen muss. Dabei soll die Leitlinie Unterstützung bieten.


Die Erkrankung selbst und auch die Langzeitfolgen haben so viele Facetten. Ist es da nicht schwierig, sich auf eine Leitlinie zu einigen, die auch noch praxistauglich sein soll?

Auf jeden Fall! Der Prozess war extrem viel Arbeit und das Zusammenwirken der beteiligten Fachgesellschaften ist wirklich vorbildlich gelungen. Ich habe schon viele Leitlinien mitentwickelt, doch diese Kooperation war eine der besonders erfreulichen Erfahrungen bisher. Der Prozess war sehr spannend, da die Allgemeinmedizin federführend war und mit vielen Disziplinen kooperiert hat. Wir standen gemeinsam vor der Herausforderung, dass es wenig Evidenz aus Studien gibt, und die vorhandene ist kaum verwertbar, weil sehr widersprüchlich. Das heißt, wir waren wie in kaum einer vergleichbaren Situation auf die Erfahrungsmedizin angewiesen. Daher ist diese Leitlinie nur S1 klassifiziert – also ein Expertenkonsensus, und sie ist als „living guideline“ angelegt.


Wie kann die Leitlinie nun konkret in der Primärversorgung helfen?

Wir haben bisher nur eine Kurzversion online, die aber für die Praxis ein sehr taugliches Instrument ist. Sie ist so gegliedert, dass der hausärztliche Workflow darin abgebildet ist. Dieser Aufbau ist für eine Leitlinie sehr ungewöhnlich. Kernelement ist die Differenzialdiagnostik mehrdeutiger Sympto- me, weil der Patient ja vorrangig mit den Symptomen zum Arzt kommt, und hier ist die Vielfalt sehr groß. Dann finden sich in der Leitlinie jene Sympto- me, die besonders häufig vorkommen wie die Kurzatmigkeit, Müdigkeit, Erschöpfung, Thoraxschmerzen oder Muskelschmerzen. Diese werden in der Leitlinie abgearbeitet und hinterfragt, ob es eine Aggravierung vorheriger Beschwerden gibt, ob der Zusammenhang kausal ist, ob ein organischer Schaden vorliegt oder die Symptome zeitlich zufällig aufeinandertreffen. Kurzatmigkeit kann ja zum Beispiel auch ganz andere Ursachen haben.


Welches Ziel wurde bei der Erstellung verfolgt?

Das Hauptgewicht liegt also auf der Einordnung, Differenzialdiagnostik und Weiterbehandlung meist mehrdeutiger Symptome, mit denen Ärzte vor al- lem an Einrichtungen des Erstkontakts konfrontiert sind. Sie ist daher textlich knapp und formal übersichtlich gehalten. Sie enthält zahlreiche Querver- weise auf andere Kapitel innerhalb des Dokuments, aber auch zur vertiefenden Information Verweise auf klinische Leitlinien zu verwandten Themen sowie Nummern von thematisch passenden Artikeln aus den „EbM-Guidelines für Allgemeinmedizin“ (EBMGA), die von Usern der Onlineversion ein- gesetzt werden können. Eine ausführlichere Langversion befindet sich in Vorbereitung zur Publikation.

Es geht vorrangig darum, eine Untertherapie genauso zu vermeiden wie Übertherapie oder Überdiagnostik. Wir wissen aus bisheriger Erfahrung, dass sich die meisten Symptome wieder folgenlos geben. Mit wirklich langen Beschwerden bleiben nur wenige übrig. Wir gehen in der Leitlinie auch auf den Umgang mit Beschwerden ein, für die es keine kausale Behandlung gibt sowie – auch das ist ungewöhnlich für eine Leitlinie – ein ausführliches Kapitel, wie Patienten wieder in den Alltag oder in die Arbeitswelt zurückfinden können.


Gehen Sie davon aus, dass sich die Studienlage in absehbarer Zeit verbessert?

Ich denke schon, doch wir brauchen dringend Studien aus dem niedergelassen Bereich. Und die Kollegen sind extrem gefordert. Sie haben während der Pandemie unglaubliches geleistet, dann kam die Impfung und jetzt gilt es vorrangig, in scheinbar endlosen Gesprächen die Impfunwilligen zu überzeugen. Da ist es natürlich gerade für diese Ärzte schwer, auch noch an Studien teilzunehmen. Ich hoffe, dass sich die Situation aber im Herbst bessert. Ohne prospektive Daten aus der hausärztlichen Praxis wird man das Problem nicht erfassen können!