MEDIZIN | Physiotherapie

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Webbasiertes Üben:

modern, motivie- rend, effektiv?

Der Einsatz von Online-Programmen in der Be- ckenbodenarbeit wird aktuell untersucht.

Erste Forschungsergebnisse zeigen Möglichkei- ten und Grenzen auf.

Regelmäßige körperliche Aktivität ist als gesundheitsförderliche Maßnahme aner- kannt und kann in vielen Gesundheitsbereichen präventiv und kurativ eingesetzt werden. Die Wichtigkeit der ärztlichen Verordnung von physischer Aktivität als „Medikament“ wird immer wieder diskutiert (Löllgen et al. 2018). Die Problematik dieses Medikamentes ist dessen regelmäßige „Einnahme“. Dies gilt für sämtliche selbstkontrollierte medizinisch-therapeutische Behandlungsformen, so eben auch für körperliche Übungen (Nieuwlaat et al. 2014). Regelmäßige Bewegung als gesundheitsförderliche Gewohnheit ist eine motorische Verhaltensmaßnahme und unterliegt den Gesetzmäßigkeiten von Lernprozessen. Vor Erstellung ent- sprechender Übungskonzepte müssen die Bedeutsamkeit und Zielsetzung von bewegungsorientierten Interventionen begründet werden. Es gilt, motivationale

Faktoren und Umweltfaktoren zu berücksichtigen, um die Übungs-Adhärenz zu gewährleisten und somit das gewünschte Programmziel zu errei- chen (Mitchie et al.2011). Im Folgenden soll die Umsetzung von Beckenbodentrainingsprogrammen unter dem Aspekt der gesundheitswirksamen Bedeutsamkeit, der Barrieren und motivationalen Förderfaktoren beleuchtet werden. Dabei wird die Möglichkeit, internetbasierte Angebote zu nut- zen, besonders beleuchtet.


Beckenbodengesundheit: klinische Bedeutsamkeit

Die zentrale motorische Funktion des Beckenbodens ist die Unterstützung der Blasen- und Darmfunktion, die Lagesicherung der Beckenorgane und die innere Stabilisation des knöchernen Beckenringes. In diesen selektiven Funktionen steht der Beckenboden in einem funktionellen Zusam- menspiel mit Aktivitäten des Rumpfes und der unteren Extremitäten. Beckenbodendysfunktionen (BDF) können mit Kontinenzstörung, Organsen- kung und motorischem Kontrollverlust im Körperabschnitt Becken einhergehen. In der weiblichen Bevölkerung steigt die Prävalenz von BDF mit zu- nehmendem Alter (siehe Tabelle 1). Dies führt zu einem Verlust an Lebensqualität, verminderter allgemeiner körperlicher Betätigung und sozialer Einschränkung (Nygaard et al. 2008). Übungen und Training des Beckenbodens sind nachgewiesen effizient in der Prävention und Behandlung von BDF (Cacciari et al. 2019). Sie werden mit einer Grad-A-Empfehlung als „First-Line Treatment“ bei Kontinenzstörungen empfohlen (Woodley et al. 2020). De Lancey et al. (2008) beschreiben die Bedeutsamkeit eines gezielten Beckenbodentrainings in allen Lebensabschnitten der Frau. Die Autoren heben die Bedeutung des Trainings bereits in jungen Jahren hervor, in denen eine funktionelle Reserve für spätere belastende Ereignisse im Leben einer Frau aufgebaut werden können. Merken können wir uns: Inkontinenz und Organsenkung werden von Frauen als „normale“ Folgen nach Schwangerschaft und Geburt sowie bei Hüft-, Becken- oder Wirbelsäulenbeschwerden angesehen.


Training und Übe-Angebote

Beckenbodenübungen gehören nicht zum routinemäßigen Repertoire allgemeiner Bewegungsprogramme. Während Bauch-, Gesäß-, Bein-, Arm- und Rückenmuskulatur in öffentlichen Fitnessprogrammen und Trainings gezielt trainiert werden, wird die Beckenbodenmuskulatur bestenfalls er- wähnt, jedoch selten spezifisch angeleitet geübt. Werden Beckenbodeninterventionen zur Behandlung von uro-, prokto- oder gynäkologischen Dysfunktionen eingesetzt, so sind für die Sicherung einer guten Effektivität folgende Schritte beschrieben (Hay-Smith et al. 2015):

• Instruktion einer korrekten Beckenbodenkontraktionsfähigkeit

• ausreichendes Üben, um eine Trainingsanpassung motorischer Funktionen zu gewährleisten

• Übungs-Adhärenz, um eine Verhaltensanpassung und Integration der Beckenbodenkontrolle im Alltag zu sichern

Ist im ersten Schritt die Basis für ein weiterführendes Üben und eine Integration der gelernten motorischen Kontrollfunktionen hergestellt, müssen in den aufbauenden Phasen allgemeine Barrieren für selbstgesteuertes Üben überwunden werden, um so den therapeutischen Erfolg zu sichern. Merken können wir uns: Beckenbodenübungen sind unterrepräsentiert in allgemeinen Fitness- und Sportprogrammen. Aufklärung, Wissensvermitt- lung und gezielte Anleitung für Übungen heben das Körperbewusstsein. Die Motivation zum Üben kann so gesteigert werden.


Übungsformen

Beckenbodentraining kann als individuelles Einzeltraining (supervidiert) oder selbstge- steuertes, nicht supervidiertes Training ange- boten werden. In der Physiotherapie liegt der Schwerpunkt auf Ersterem. Eine Argumenta- tion für diese Schwerpunktsetzung ergibt sich klar aus der klinischen Notwendigkeit, komplexe Beschwerdebilder in spezialisierter Einzelbehandlung zu betreuen. Es gibt auch Hinweise in der Literatur, dass die Fähigkeit

von Frauen, den Beckenboden selektiv willentlich anspannen zu können, nicht zuverlässig gegeben ist, jedoch bei spezifischen Anleitungen durch Fachpersonen eine gute Lernfähigkeit für die korrekte Ausführung der Beckenbodenaktivität erreicht werden kann (Henderson et al. 2013, Talasz et al. 2008). Das Wissen um den Beckenboden und dessen Funktionen bei Frauen aller Altersgruppen ist gering (Neels et al. 2016 a, b). Symptome wie Inkontinenz oder Sexualfunktionsstörungen werden aus Scham oder unhinterfragter Akzeptanz von Betroffenen nicht aktiv angesprochen. Pro- gramme, die eine möglichst breite Bevölkerungsgruppe erreichen, tragen dazu bei, dieses tabuisierte Thema ansprechbar und verstehbar zu ma- chen. Dies ist im Sinne einer gesundheitsfördernden Maßnahme und zur Ergänzung gezielter Behandlungsprozesse sinnvoll, da sie die eigenakti- ve Motivation zur Integration dieses wichtigen Bewegungsbereiches in den individuellen Alltag unterstützen.


Online-Programme

Die Verwendung internetbasierter Übungsprogramme ist eine moderne Zugangsform, um einer breiten Bevölkerungsgruppe selbstgesteuertes Be- ckenbodenüben in Prävention und Rehabilitation zu ermöglichen (Nyström et al. 2017, van Au et al. 2021). Derartige Angebote bieten die Möglich- keit, sich anonymisiert dem tabubesetzten Thema zu nähern. Teilnehmer können individuell bestimmen, wann und in welchem Umfeld sie das Pro- gramm durchführen. Dies gewährleistet eine gewisse Intimität, was gerade beim Thema Beckenboden bedeutsam ist. Wir merken uns: Online-Pro- gramme sind im Trend und werden von breiten Bevölkerungsgruppen genutzt.

Eine Forschergruppe aus Schweden hat auf Basis ihrer Untersuchungsergebnisse internetbasierte Formen des Beckenbodentrainings entwickelt. Es entstand die App Tät, die ein userfreundlich aufgearbeitetes Programm bestehend aus Wissensvermittlung, Verhaltenstipps und Krafttraining für den Beckenboden anbietet (Sjöström et al. 2013, Wadensten et al. 2021). Mit der App wurden in den letzten vier Jahren über 60.000 Personen er- reicht. Studienergebnisse aus einer selektiven Untergruppe von 2.100 Personen zeigen eine gute Übungs-Adhärenz. Eine Verbesserung der Be- lastungsharninkontinenz war bei 65,6 % der Teilnehmer innerhalb einer dreimonatigen Trainingsperiode gegeben (Nyström et al. 2021). Gestützt durch diese Erkenntnisse wurde im März 2021 ein internetbasiertes Beckenbodenprogramm durch Physiotherapeutinnen in Graz erstellt (#Becken- BodenChallenge). Das Programm bietet Frauen jeden Alters ein nach den Kriterien des motorischen Lernens und des Muskeltrainings aufgebautes Beckenbodenprogramm an. Sämtliche Informationen rund um das Thema und Tipps zur Verhaltenssteuerung sind salutogenetisch ausgerichtet. Eine hohe Beteiligung am Programm und ein positives Feedback von Teilnehmern bestätigen aktuell die Akzeptanz dieser Intervention. Eine geziel- te retrospektive Analyse der Effektivität und des Wirkungsgrades ist in Planung.