MEDIZIN | Nobelpreis

FOTOS: KLAUS PICHLER/CEMM, FRANK VINKEN

Medizin-Nobelpreis 2022

Der schwedische Max-Planck-Forscher Svante Pää- bo ergatterte dieses Jahr den begehrten Nobelpreis für Physiologie oder Medizin für seine Entdeckun- gen über die Genome ausgestorbener Homininen und die menschliche Evolution. Was bedeutet das für die Medizin?

Zur Person

Svante Pääbo wurde 1955 als außerehelicher Sohn des Nobelpreisträgers Sune Berg- ström und der estnischen Chemikerin Karin Pääbo in Stockholm geboren. Ab 1975 stu- dierte er zunächst Ägyptologie, Russisch, Wissenschaftsgeschichte und von 1977 bis 1980 auf Anraten seines Vaters auch Medizin an der Universität Uppsala, wo er 1986 mit einer Arbeit in molekularer Immunologie seinen PhD erlangte. Zum Abschluss seines Me- dizinstudiums fehlte ihm allerdings der letzte, klinische Abschnitt, da er in die Grundla- genforschung wechselte.

Er forschte am Institut für Molekulare Biologie an der Universität Zürich und an einem Krebsforschungszentrum in London. Als Postdoc verbrachte er die Jahre von 1987 bis 1990 an der University of California in Berkeley in der Arbeitsgruppe von Allan Wilson, ei- nem Pionier in der Anwendung molekularbiologischer Methoden in der Evolutionsfor- schung. 1990 wechselte er auf eine C4-Professur für Allgemeine Biologie an die Ludwig- Maximilians-Universität München, von dort 1997 nach Leipzig an das neu gegründete Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie. Seit 1999 leitet er dort als einer von sechs Direktoren die Abteilung Evolutionäre Genetik und ist gleichzeitig Honorarprofessor an der Universität Leipzig.

Pääbo kann auf eine lange Publikationsliste und zahlreiche Auszeichnungen und Mitglied- schaften verweisen. Im Jahre 2014 veröffentlichte Svante Pääbo das Buch „Die Neander- taler und wir: meine Suche nach den Urzeit-Genen.“ Seine Karriere wurde nun mit dem Nobelpreis gekrönt. Er ist mit der US-amerikanischen Primatenforscherin Linda Vigilant verheiratet und hat zwei Kinder.

www.eva.mpg.de/genetics/staff/paabo

Er ist vor mindestens dreißigtausend Jahren ausgestorben, wurde oft verkannt und seine Bedeutung unzählige Male völlig falsch eingeschätzt. Doch nun steht er im Fokus der Wissenschaft, denn ein Forscher konnte seine DNA dechif- frieren und begründete damit einen neuen Wissenschafts- zweig, die Paläogenetik. Die Rede ist vom Neandertaler. Der moderne Mensch hat mit ihm weit mehr gemeinsam, als lange Zeit angenommen wurde.


Ausgestorbene Hominine und die Evolution

Äußerst selten kommt es vor, dass ein einzelner Wissen- schaftler den Medizin-Nobelpreis in Höhe von rund 914.000 Euro verliehen bekommt. Dem Schweden Svante Pääbo gelang das Kunststück 2022. „Die Entdeckungen von Pääbo haben zu einem neuen Verständnis unserer Evolutionsgeschichte geführt“, heißt es seitens des Nobel- preis-Komitees. Pääbo ist Genetiker und klonte 1984 als Doktorand erstmals die DNA einer Mumie. Er beschloss Mitte der 1990er, dass es seine Lebensaufgabe sein sollte, den genetischen Code ausgestorbener Hominine zu ent-

schlüsseln. Damit begründete er die Paläogenetik. 1996 waren die ersten Codes der Erbsubstanz aus den Funden von Neandertalern entziffert. Nun ist schon die Dechiffrierung der drei Milliarden Bausteine der menschlichen DNA keine Kleinigkeit – bei jahrtausendealten Knochen mit che- mischen Veränderungen, Verunreinigungen mit fremder DNA und dem Verfall ausgesetzt erst recht nicht. Päabo und sein Team konnten durch die Sequenzierung des Neandertaler-Genoms nachweisen, dass dieses Genom stärker mit dem Erbgut von Europäern und Asiaten übereinstimmt als mit jenem von Afrikanern, was auf eine Vermischung zwischen dem modernen Menschen und dem Neandertaler im Bereich des Nahen Ostens

hindeutet.

Am Max-Planck-Institut in Leipzig beschäftigt sich Pääbo mit der Frage, welche genetischen Veränderungen in der Evolutionsgeschichte den modernen Menschen ausmachen. Sein For- scherteam vergleicht Genmaterial des heutigen Menschen mit anderen Homininen wie dem Neandertaler und dem von Menschenaffen. Gemeinsam mit Kollegen wies er 2010 nach, dass vor rund 40.000 Jahren neben dem Homo sapiens und dem Neandertaler eine dritte Homininen-Art im Altai-Gebirge lebte, der Denisova-Mensch.


Pääbo und Covid-19

Pääbo forschte außerdem zu genetischen Aspekten der Covid-19-Pandemie. Das menschli- che Chromosom 3 enthält gegebenenfalls eine DNA-Sequenz von etwa 50 Kilobasen, die das Risiko erhöht, schwer an Covid-19 zu erkranken. Diese Sequenz ist vom Neandertaler ererbt und in 16 % der europäischen und in 50 % der südasiatischen Bevölkerungen nachzuweisen. Dagegen trägt Chromosom 12 eventuell eine DNA-Sequenz, die Proteine kodiert, die bei In- fektion mit RNA-Viren schützen. Diese Sequenz ist im menschlichen Genom weltweit – nur nicht in Afrika – verbreitet.


bw

Mehr Verständnis für Erkrankungen


Univ.-Prof. Dr. Christoph Bock, CeMM Forschungszentrum für Molekulare

Medizin und Medizinische Universität Wien, erklärt, warum Svante Pääbo

den Medizin-Nobelpreis erhalten hat.


Was ist Paläogenetik?

Die Paläogenetik verwendet genetische Methoden zur Analyse alter Fundstücke – zum Beispiel menschlicher Knochen, aber auch Überreste von Tieren und Pflanzen. Die „alte DNA“ in solchen Fundstücken wird mittels Genom-Sequenzierung gelesen. Mit diesen Daten kann zum Beispiel die evolutionäre Herkunft des Menschen analy- siert werden. Svante Pääbo und sein Team haben das Genom des Neandertalers sequenziert und nachgewiesen, dass es gemeinsame Nachkommen des modernen Menschen (Homo sapiens) und des Neandertalers gibt. Bei den meisten Mitteleuropäern stammen etwa 2 bis 4 % des Genoms vom Neandertaler.


Was kann die Humangenetik?

Sie kann genetische Krankheiten dia-gnostizieren – dies sind häufig sogenannte Seltene Erkrankungen – und zunehmend auch Risikofaktoren für „Volkskrankheiten“ wie Herzinfarkt, Diabetes und Krebs bestimmen, die teilweise für eine gezielte Vorsorge genutzt werden können.


In welcher Weise können die Erkenntnisse von Svante Pääbo Auswirkungen auf die Medizin haben? Welches Potenzial ergibt sich daraus?

In den Bereichen unseres Genoms, die wir vom Neandertaler geerbt haben, findet man besonders viele Gene, die für unser Immunsystem und für die Ernährung wichtig sind. Wir vermuten, dass der Homo sapiens einen Teil seiner Anpassung an die Umwelt in Europa und Asien vom Neandertaler erworben hat. Allerdings ist die geneti- sche Anpassung an bestimmte Umweltbedingungen immer auch ein Kompromiss zwischen unterschiedlichen Anforderungen. Was uns bei knapper und wechselhafter Ernährung vor dem Hungertod schützt, mag heutzutage ein Risikofaktor für Übergewicht sein. Und ein besonders wachsames Immunsystem mag in einer weitgehend „keimfreien“ Umwelt zu Autoimmunerkrankungen neigen. Das Genom des Neandertalers kann uns helfen, solche Mechanismen zu verstehen.


Gibt es in dieser Sparte relevante österreichische Beiträge?

Genetische Methoden werden in der Archäologie mittlerweile sehr viel verwendet, in Österreich zum Beispiel am Österreichischen Archäologischen Institut der Österrei- chischen Akademie der Wissenschaften. Zum Beispiel können damit Familienverhältnisse bei Grabfunden bestimmt werden. Und an der Universität Wien gibt es ein „An- cient DNA Lab“ unter der Leitung von Ron Pinhasi.


Christoph Bock ist seit 2012 als Principal Investigator am CeMM Forschungszentrum für Molekulare Medizin der Österreichischen Akademie der Wissenschaften tätig. Er ist zudem Professor für Medizinische Informatik an der MedUni Wien, wo er das Institut für Künstliche Intelligenz leitet. Seine Forschung verbindet experimentelle Biologie (Hochdurchsatz-Sequenzierung, Epigenetik, CRISPR-Screening, synthetische Biologie) mit computergestützten Methoden (Bioinformatik, maschinelles Lernen, künstli- che Intelligenz) für Krebs, Immunologie und Präzisionsmedizin. Bevor er nach Wien kam, war er Postdoc am Broad Institute des MIT und Harvard (2008-2011) und Dok- torand am Max-Planck-Institut für Informatik (2004-2008). Christoph Bock koordiniert auch die Biomedical Sequencing Facility des CeMM und der MedUni Wien und ar- beitet am Ludwig Boltzmann Institute for Rare and Undiagnosed Diseases (LBI-RUD) mit.

cemm.at