MEDIZIN | Um-Denk-Prozesse
Um-Denk-Prozesse
Foto: Meduni Wien
Knapp ein Jahr ist es her, seit Univ.-Prof. Mag. Dr. Herwig Czech die Professur für Geschichte der Medizin an der MedUni Wien übernommen hat. Der Zeithistoriker zeichnet sich durch besondere Expertise zur Medizin im Nationalsozialismus aus.
Eine Sammlung von mehr als 400 anatomischen Illustrationen wurde kürzlich der Medizinischen Universi- tät Wien übergeben. Die Vorlagen für die Originalabbildungen aus dem Atlas „Topographische Anatomie des Menschen“ sind nicht unumstritten. International ist er für seine detailgetreuen Abbildungen bekannt, aber auch für den Autor Dr. Eduard Pernkopf. Der Anatom wurde 1933 Mitglied der NSDAP und kurz dar- auf der SA. Von 1943 bis 1945 war er Rektor der Universität Wien. Im Interview gibt Czech Einblick in sei- ne zeithistorischen Forschungen.
?Wo liegt der Schwerpunkt Ihrer aktuellen Forschungstätigkeit?
Meine Forschungen erstrecken sich auf eine Reihe von größeren und kleineren Vorhaben zur Zeitge- schichte der Medizin. Ein größeres Drittmittelprojekt beschäftigt sich zum Beispiel mit der Geschichte der Hirnforschung im Rahmen der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft/Max-Planck-Gesellschaft und der Verwendung von Gehirnen von Opfern der NS-Verfolgung in diesem Zusammenhang. Im Rahmen einer eben konstitu- ierten Lancet Commission on Medicine and the Holocaust wird es um Konsequenzen aus den Erfahrun- gen des Nationalsozialismus für die heutige Medizin gehen. Was einzelne Spezialfächer angeht, so waren in letzter Zeit Psychiatrie und Neurologie, Heilpädagogik und Jugendpsychiatrie, Hämatologie sowie die Jugendheilkunde Gegenstand von Untersuchungen. Weitere Themen waren die Vertreibung jüdischer Mediziner, die Entnazifizierung, Geschichte der Anatomie, der Eugenik im frühen 20. Jahrhundert, die
„Spanische Grippe“ 1918/19, Geschichte der Bioethik seit dem Zweiten Weltkrieg sowie Men- schenversuche in Auschwitz. Das Feld ist insgesamt recht vielfältig.
?Sie forschen unter anderem auch an der Hämatologie und medizinischen Onkologie in Österreich ab 1890 – was haben diese Erkenntnisse für eine Bedeutung für die aktuelle Entwicklung der Medizin?
Die Geschichte der österreichischen Hämatologie und medizinischen Onkologie habe ich mit meinem Mitarbeiter Clemens Jobst in einem Beitrag für eine letztes Jahr erschienene Fest- schrift dargestellt (C. Jobst and H. Czech, Geschichte der Hämatologie und medizinischen On- kologie in Österreich, ca. 1890 bis 1970, in: Österreichische Gesellschaft für Hämatologie und medizinische Onkologie (Hg.), 50 Jahre OeGHO – Geschichte in Geschichten, Wien: MedMe- dia Verlag 2020) — leider ist die Präsentation wegen Corona geplatzt und kann erst nächstes Jahr nachgeholt werden. Meine Hoffnung ist, dass solche Arbeiten für die heute Aktiven einen Raum öffnen, um sich mit ihren akademischen Lehrern und damit ihrer eigenen Biografie auseinanderzusetzen.
?Elsevier hat kürzlich Originalzeichnungen des Pernkopf-Atlas für Anatomie an das Jo- sephinum übergeben. Welche Bedeutung haben die Zeichnungen für Sie als Wissen- schaftler?
Als Medizinhistoriker sehe ich diese Zeichnungen in erster Linie als kulturelle Artefakte, die
durch ihre Geschichte auch stark negativ konnotiert, das heißt „belastet” sind. Die Übernahme durch die MedUni Wien bedeutet, dass nun eine verstärkte Auseinandersetzung mit diesen Zeichnungen möglich sein wird, nicht zuletzt auch im Rahmen der für nächstes Jahr geplanten Neueröffnung des Josephinums und dessen Ausstellungsbetrieb.
rh