LONG-COVID & PSYCHE | Jubiläum

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100 Jahre Erwin Ringel

Kaum ein Wissenschaftler der neueren Zeit hat so sehr aufgeregt und angeregt wie

Erwin Ringel mit seinen Analysen der österrei- chischen Seele. 2021 wäre er 100 Jahre

alt geworden. Univ.-Prof. Dr. Michael Musalek fin- det in Ringels Werk noch reichlich „Material“ für die Zukunft.

Der Psychiater, Psychotherapeut und Neurologe Dr. Erwin Ringel war ein leidenschaftlicher und dennoch liebevoller Kritiker von Missständen in Gesellschaft, Politik und Kultur. Drei herausragende Errungenschaften Erwin Ringels machen ihn auch heute noch zu einer Schlüsselfigur in der psychotherapeutischen und psychiatrischen Forschung, wie Univ.-Prof. Dr. Michael Musalek, Präsident des Stiftungsfonds des Erwin Ringel Insti- tuts und selbst Psychiater und Psychotherapeut, bestätigt: „Da sind zum einen seine Verdienste um die Suizidprävention. Das ‚Präsuizidale Syn- drom‘ und das erste Suizidverhütungszentrum Europas sind untrennbar mit dem Namen Erwin Ringel verbunden.“ Die zweite Errungenschaft Rin- gels war die „Psychosomatik, nachdem er 1954 die erste psychosomatische Station in Österreich aufbaute und der psychiatrischen Psychosoma- tik zum Durchbruch verhalf“, so Musalek. Schließlich machte sich der „Adlerianer“ um die Psychotherapie und das Psychotherapiegesetz beson- ders verdient.


Konstruktive Kritik

Doch auch außerhalb der Medizin war Erwin Ringel bekannt, denn er scheute den öf- fentlichen Diskurs nie. Öffentlichkeitswirksam nahm er zu allem Stellung, angefangen von der Psyche der Österreicher über die Opernwelt, die Politik bis hin zu Schiedsrich- tern auf dem Fußballfeld. Er behauptete alle Österreicher seien Neurotiker, schrieb den Bestseller „Die österreichische Seele“ und galt als Intimfeind des verstorbenen Kärntner Landeshauptmanns Dr. Jörg Haider. „Der praktizierende Katholik und Kirchgänger Er- win Ringel war gleichzeitig Sozialist, eine schillernde Person, die sich nicht zu gut war, selbst in den politischen Diskurs einzugreifen. Trotz seiner offenen, angriffigen Art, Miss- stände aufzudecken und anzuprangern, hat er immer auch Interesse und Fürsorge ge- zeigt. Er trat für Schwächere in der Gesellschaft ein und hat für psychisch Kranke viel geleistet“, so Musalek. Die konstruktive Kritik war es, die Ringel übte, denn er wollte nicht bloß kritisieren, sondern vor allem verändern.


Erwin Ringels Erbe

Was ist es nun, was Erwin Ringel selbst heute noch für die Medizin und die Gesellschaft

leisten kann? „Es ist der Diskurs, das Bemühen, Missstände zu diskutieren, Meinungen zu hören und nicht zuzulassen, dass Themen tabuisiert werden“, sagt Musalek und fährt fort: „Erwin Ringel hat sehr viel bewegt und es liegt nun an uns das weiterzuführen. Auch wenn es nicht leicht ist, mit Tabuthemen an die Öffentlichkeit zu gehen und gegen große Hemmnisse anzukämpfen, dürfen wir nicht nachlassen.“

In der Praxis geht Musalek den Weg Ringels weiter. Er ist Leiter des psychosozialen Beraterstabs des Gesundheitsministers, der sich um die Auf- arbeitung der psychosozialen Folgen der Coronakrise bemüht und Lösungsstrategien entwickelt. Dabei ist Erwin Ringels Ziel, sich in den öffentli- chen Diskurs einzubringen, um Veränderungen zu ermöglichen, stets präsent. „Der psychosoziale Beraterstab ist ganz im Sinne Ringels“, so Musalek. Dabei hat sich in der Zwischenzeit viel verändert, denn heute fallen in den sozialen Medien viele Hemmschwellen. „Was soziale Medien betrifft, müssen wir zu Regularien finden, denn es kann nicht sein, dass jeder anonym andere wüst beschimpfen darf. Das Denunziantentum und die negativen Kommentare haben in der angespannten Pandemiezeit noch weiter zugenommen. Die Pandemie wirkt wie ein Brandbeschleuniger. Dabei wäre es das Wesen einer Demokratie, zur eigenen Meinung zu stehen und sich der Diskussion zu stellen“, zeigt sich Musalek besorgt. Vor

der Pandemie bestehende Störungen haben sich massiv verstärkt – das gelte auch für psychische Probleme. „Gleichzeitig bemerken wir jedoch, dass sich die Zahl der Hilfesuchenden kaum erhöht hat. Die Hemmschwelle ist nach wie vor hoch. Außer- dem sind Angebote wie Gruppentherapien schwie- rig. Die digitalen Kommunikationsformen funktio- nieren als Übergang oder komplementär, aber sie ersetzen nicht das Gespräch oder eine therapeuti- sche Beziehung. Wir werden daher die Arbeit Er- win Ringels fortsetzen und in seinem Sinne den öf- fentlichen Diskurs suchen, um Lösungen für Miss- stände zu finden“, so Musalek abschließend.


bw