FORTBILDUNG & KLINIK I Verband der leitenden Krankenhausärzte Österreichs

Foto: zvg, istockphoto/ Natalia Darmoroz, NOURI

Nuklearmedizin in Wissenschaft und Menschenrechten

Die Nuklearmedizin weist im Wissenschaftsbe- reich großes Potenzial für umfassende multidiszi- plinäre Studien auf. Darüber hinaus gewinnt das Fach aktuell aufgrund der weltpolitischen Lage an Aufmerksamkeit.

Univ.-Prof. Dr. Siroos Mirzaei, MBA, Facharzt für Nuklearmedizin, ist Mitglied des VLKÖ und leitet das Institut für Nuklearmedizin mit PET-Zentrum in der Klinik Ottakring des Wiener Gesundheitsverbundes. Darüber hinaus hat er sich auch einen Namen als Experte für Folterdiagnostik und medizi- nischer Menschenrechtsaktivist gemacht.

Die Entscheidung für die Nuklearmedizin fiel nicht geplanterweise. „Ich war damals offen für verschiedene Fächer. Wegen der Medizinerschwem- me waren fast alle Fächer mit Bewerbern überlaufen“, erzählt Mirzaei und fährt fort: „Ich tendierte zu Kardiologie, Neurologie und Orthopädie. Wäh- rend der Fußballmeisterschaft zwischen den Wiener Spitälern habe ich in einer Pause eines Spiels von Kollegen von der Ausbildungsstelle in Nu- klearmedizin im Wilhelminenspital (Anm.: heute Klinik Ottakring) erfahren.“ Der Jungmediziner spielte damals selbst in der fusionierten Mannschaft des Kaiserin Elisabeth Spitals mit dem Wilhelminenspital. „Ich kannte Myokardszintigrafie von meiner Ausbildungszeit, die ich zum Teil in Luxem- burg absolviert hatte. So kam ich auf die Nuklearmedizin.“


Klinisch relevante Studien

Aus einer „Zufallsentscheidung“ wurde jedoch schnell Faszination. In Mirzaeis Abteilung werden alle Bereiche der Nuklearmedizin abgedeckt. Schwerpunkte sind Schilddrüsenerkrankungen und Onkologie. „Wir haben in der Vergangenheit aber auch neurologische Studien durchgeführt“, ergänzt der Mediziner. „Wer sich interessiert und mit den klinischen Abteilungen gut kooperiert, kann unterschiedliche Schwerpunkte für klinische Studien finden und durchführen. In der Klinik Ottakring haben wir ein sehr gutes Umfeld für diese unbürokratische kooperative wissenschaftliche Zusammenarbeit. Das ist genau, was mich fasziniert, dass man mit diversen Abteilungen klinisch relevante wissenschaftliche Studien durchführen kann.“

Technisches Verständnis ist freilich von großem Vorteil, weil damit die Möglichkeiten der zur Verfügung stehenden Geräte mit viel Technologie bes- ser für den klinischen Einsatz genutzt werden können. „Mögliche Fehlerquellen können besser erkannt werden und Geräte müssen nicht blind von der Industrie abgenommen werden. Technisch fundiertes Verständnis ist aber nicht Voraussetzung – Sie können auch ein Auto fahren, ohne den Motor im Detail zu kennen“, bringt der Nuklearmediziner auf den Punkt, was oft überbewertet wird. Es sei jedoch gut zu wissen, was ein Gerät kann und welcher Mindeststandard für diverse Untersuchungen erforderlich ist. „Das kann man aber im Laufe der Ausbildung lernen“, so Mirzaei.

Die Forensik ist beispielsweise ein Teilbereich der Nuklearmedizin, der weiter ausgebaut werden könnte, denn hier kann Nuklearmedizin gezielt eingesetzt werden. „Bei Kindesmisshandlungen ist die Knochenszintigrafie seit Jahrzehnten bekannt und wird immer wieder eingesetzt. Wir und auch Kollegen in der Türkei haben die Knochenszintigrafie zum Nachweis von schwerer körperlicher Misshandlung mit Traumen am Knochen ein- gesetzt. Metabolische Gehirnuntersuchungen haben Potenzial, ebenfalls in diesem Bereich genutzt zu werden. Dazu gibt es bereits einzelne Lite- raturberichte, auch von unserem Institut.“


Attraktives Fach mit alten Vorurteilen

Andere Fächer haben es dennoch leichter, wenn es um den Nachwuchs geht. Dabei hat die Nuklearmedizin einiges zu bieten: „Die meisten nukle- armedizinischen Abteilungen haben keine Nachtdienste und sind daher finanziell nicht sehr attraktiv. Daher habe ich meinen jungen Ärzten freige- stellt, in anderen Abteilungen nach Wunsch Nachtdienste zu übernehmen. Nuklearmedizin ist ein klinisches Fach, daher ist es auch gut, in klini- schen Abteilungen zu arbeiten. Nach der Ausbildung hat man die Möglichkeit, in Ordinationen mitzuarbeiten.“ Die Zahl der Schilddrüsen-Schwer- punktordinationen steigt stetig, Institute entwickeln sich auch im Privatsektor. „Zusätzlich sei auf die Entwicklungspotenziale im Fach hingewiesen.

Viele zielgerichtete Therapien im Bereich der Nuklearonkologie sind bereits Routine gewor- den – etwa die Therapie der neuroendokrinen Tumore, metastasiertes Prostata-Karzinom und andere –, weitere sind in der Pipeline. Wir haben vor einigen Monaten die Therapie des weißen Hautkrebses mit Rhenium-188 in der Klinik Ottakring erstmalig in Österreich einge- führt und die Nachfrage steigt stetig.“ Manche seit Jahren etablierten Bereiche wie Nukle- arkardiologie und Neuronuklearmedizin seien noch ausbaufähig. „Und zum guten Schluss gibt es für wissenschaftlich Interessierte Möglichkeiten, sich mit diversen Schwerpunkten einzubringen, Voraussetzung ist Eigeninteresse“, ergänzt der Institutsvorstand.

Die Nuklearmedizin hat freilich noch immer mit alten Vorurteilen zu kämpfen, die manche Jungmediziner abschrecken. So wird mit offenen radioaktiven Stoffen gearbeitet. Es gibt je- doch klare Regeln, wie damit umgegangen werden darf – Regeln, die in den ersten Wo- chen im Institut erlernt werden. „Die Strahlenexposition wird ständig ab dem Tag null mittels Finger- und Rumpfdosimeters überwacht. Bisher habe ich keine einzige Überschreitung der zugelassenen Dosiswerte erlebt – alle Werte waren weit im grünen Bereich. Die jungen Da- men und Herren der Abteilung haben ohne Probleme Nachwuchs“, versichert der Instituts- leiter. Die Strahlenexposition sei bei der Injektion des Tracers vorhanden und wenn Patien-

ten appliziert sind. Angst vor nuklearen Techniken sieht Mirzaei unbegründet, solange einfache Strahlenschutzmaßnahmen bei Arbeiten mit radio- aktiven Stoffen eingehalten werden. „Bei Atomanlagen sind natürlich viel striktere Maßnahmen erforderlich und besondere Sorgfalt und Kontrolle geboten“, räumt er ein. „Die Technologie ist heutzutage sehr zuverlässig, aber Naturereignisse wie in Fukushima, Krieg wie leider derzeit in der Ukraine und menschliches Versagen sind die besonderen Gefahrenquellen, die nicht zu unterschätzen sind.“


Aktuelle und wiederkehrende Expertise

Angesichts der aktuellen weltpolitischen Krise mit dem Russland-Ukraine-Krieg werden Nuklearmediziner häufig gefragt, ob und wann Jodtablet- ten zum Schutz der Schilddrüse wegen eines drohenden Atomangriffs eingenommen werden sollen. „Aus den Erfahrungen von Tschernobyl und Fukushima haben wir natürlich auch viel gelernt. Zeitfaktor und Abstand sind die wesentlichsten Knackpunkte nach so einem Ereignis“, sagt Mirzaei.

Der Krieg bringt jedoch noch eine andere Thematik aufs Tablett, für die sich der Nuklearmediziner engagiert. Mirzaei ist Menschrechtsaktivist und Experte für die nuklearmedizinische Detektion von Folterspuren. „Die größte Gefahr ist, wenn die kommenden Gefahren ignoriert werden, der Kopf in den Sand gesteckt wird und man denkt, ‚es wird schon‘“, so der engagierte Mediziner. „Im Fall Russlands hat man die Gefahr des Krieges unter- schätzt und die Gefahr der unüberschaubaren Eskalation wird auch weiterhin unterschätzt. Russland hat Verbündete, und zwar nicht nur Weißruss- land, sondern mit Wendemöglichkeit auch China und die islamisch-oligarchisch aufgebaute Republik Iran. Der Iran arbeitet an einer Atombombe, was in den kommenden Jahren noch nicht realisiert werden wird. Die Russen liefern Teiltechnologien dafür. Was der Iran jedoch verschuldet, ist, dass die gesamte Region bis zum Ärmelkanal destabilisiert wird und nach eigener Definition eine Pufferzone gegen Westen aufgebaut werden soll. Durch für das System harmlose Sanktionen verarmt die Bevölkerung, aber die Elite wird reicher und mächtiger denn je. Der Iran ist derzeit die ge- fürchtetste Diktatur der Welt. Es ist das einzige Land der Welt, das eigene Staatsbürger – Doppelstaatsbürger, viele von ihnen aus der EU – in Gei- selhaft hält, um Zugeständnisse des Westens zu erlangen.“  Dazu gab es einen Aufruf in Nature an die Wissenschaftler, dagegen zu protestieren,

nachdem es die Politik nicht tut, wie Mirzaei entsetzt fest- stellt. Auch die World Medical Association habe gegen gra- vierende Menschenrechtsverletzungen im Iran protestiert. „Wenn man die Ereignisse zusammenzählt, sind die Men- schenrechte nicht nur in Gefahr, sondern werden derzeit tagtäglich vom Iran über Afghanistan bis in die Ukraine massiv verletzt. Mediziner auf der ganzen Welt sind aufge- rufen, mit ihren Institutionen dagegen zu protestieren“, wünscht sich der Nuklearmediziner.


Potenzial für die Zukunft

Mirzaei ist Präsident der Sektion Nuklearmedizin in der Union of the European Medical Specialists (UEMS). Die Sektion umfasst vier Arbeitsgrup- pen: Fellowship, die europäische Facharztprüfung; Accreditation, die Akkreditierung von nuklearmedizinischen Abteilungen und Ausbildungszen- tren; Syllabus, die Definition von Ausbildungsinhalten für die Facharztausbildung – dieses Jahr mit dem Schwerpunkt Onkologie; und CME, die Ak- kreditierung von Fortbildungsveranstaltungen. „Das große Ziel ist die Harmonisierung der Nuklearmedizin in Europa sowie die Internationalisierung

als zweites Ziel. Dazu trägt eine Kooperation mit der asiatischen Facharztprüfung mit Gastmitgliedern aus Jordanien, dem Iran und Kuba bei“, so Mirzaei. Ei- nen Wunsch an die heimische Politik hat Mirzaei noch im Hinblick auf die Entwicklung seines Faches: „Die Gebietskrankenkassa muss endlich die Nukle- armedizin als eine klinische Fachdisziplin annehmen und Verträge österreichweit abschließen. Die Ein- satzdomäne der nuklearmedizinischen Untersuchun- gen und Therapien wächst evidenzbasiert und die Spitäler allein schaffen es schon lange nicht mehr, alles adäquat abzudecken. In vielen europäischen Ländern ist dies schon erledigt.“


bw