MEDIZIN & RECHT | Notfallkoffer

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Der juristische Notfallkoffer

Effektive Kommunikation im Schadensfall und Lernen aus Fehlern gelten als Eckpfeiler im Um- gang mit unerwünschten Ereignissen.

AUTOR:

SR Prof. Mag. Dr. Leopold-Michael Marzi

Leiter Stabsstelle Vorfallsabwicklung und Prävention AKH Wien

Tel.: 01/40400-38070

marzi@moser-marzi.at (privat)


Es ist psychologisch erwiesen, dass Menschen in Extremsituationen oft nicht (mehr) fähig sind, strukturiert zu kommunizieren. Dies führt dazu, dass sich die ohnehin schon schwierige Situation noch verschlimmert. Nie- mand wird leugnen, dass medizinische Behandlung eine gefährliche Tätig- keit darstellt, und zwar nicht nur für Personen, die den ärztlichen Beruf aus- üben, sondern auch für alle, die den Ärzten und Ärztinnen zuarbeiten. Be- handlungsfehler können nicht nur auf Patientenseite, sondern auch beim Personal schwerwiegende, im Extremfall sogar traumatische Folgen ha-

ben. Daher ist es von zentraler Bedeutung, schon kurz nach einem Schadensereignis eine effektive Kommunikation aufzubauen und professionelle Hilfe zu suchen.


Der juristische Notfallkoffer

Aufgrund der langjährigen Erfahrung in der medizinischen Schadensabwicklung seit 1992 habe ich gemeinsam mit der Wiener Städtischen Versi- cherung den sogenannten „juristischen Notfallkoffer“ entwickelt. Dieser kleine Plastikkoffer, der seit 2007 (nur) im AKH in Verwendung ist, enthält vor allem eine Checkliste, die vorgibt, welche Schritte in einem Schadensfall unbedingt zu setzen sind. Da Schadensereignisse in einem Kranken- haus glücklicherweise eine seltene Ausnahme darstellen, fehlt dem Personal in kritischen Situationen meist die praktische Erfahrung, rechtlich kor- rekt zu handeln.

Für die suffiziente Aufarbeitung bedarf es zeitnahe fachkundiger juristischer Unterstützung, die aber im Regelfall nicht sieben Tage die Woche un- unterbrochen zur Verfügung steht. Daher wurde im Wiener AKH die Möglichkeit geschaffen, juristische Hilfe via Telefonzentrale auch während der Abendstunden und am Wochenende bei Bedarf jederzeit niederschwellig kurzfristig anfordern zu können. Seit der Einführung im Jahr 2007 ist so gut wie kein Fall, der auf diese Weise rasch gemeldet wurde, in einem Gerichtsverfahren abgehandelt worden, ebenso gab es kein einziges Mal ein mediales Echo.

Nicht nur das Personal, sondern auch die betroffenen Patienten und Patientinnen sowie deren Angehörige können im konkreten Bedarfsfall mit ei- nem Juristen oder einer Juristin in telefonischen oder – bei besonderer Wichtigkeit – auch persönlichen Kontakt treten. Somit haben die geschädig- ten Personen niemals den Eindruck, dass die Angelegenheit vertuscht oder falsch eingeschätzt wird, das Personal fühlt sich im Schadensfall ad- äquat betreut und nicht allein gelassen.

Es mag einen auswärtigen Betrachter überraschen, warum ein nachweislich seit 15 Jahren erfolgreich etabliertes und von allen Berufsgruppen des Gesundheitswesens geschätztes Werkzeug in anderen Krankenhäusern noch nicht eingeführt werden konnte. Die Gründe dafür sind eigentlich schwer zu verstehen.

Zunächst ist das in Gesundheitseinrichtungen tätige juristische Personal einfach nicht bereit, auch zu ungewöhnlichen Zeiten wie am späten Abend oder am Wochenende – noch dazu spontan – tätig zu werden und eventuell sogar Entscheidungen zu treffen. Es herrscht vielfach die Men- talität vor, dass juristische Arbeit für ein Krankenhaus zwischen Montag und Freitag erledigt werden kann, wobei völlig übersehen wird, dass Kran- kenhäuser zwar einige Bereiche durchaus nur während der Woche betreiben, für Akutfälle aber immer bereitzustehen haben. Zudem kann ein Feh- ler mit Schadensfolgen (etwa die Verabreichung eines falschen Medikaments) jederzeit und nicht nur während der Bürozeiten auftreten.

Falsch verstandene Sparsamkeit seitens der Spitalsleitung kann ebenso dazu führen, dass die Einführung dieses Werkzeugs verhindert wird. Die höhere Bezahlung von Nacht- oder Sonntagsüberstunden wird von Krankenhausmanagern als Scheinargument benutzt, nichts zu verändern. Die Meinung einer hochrangigen, bis zur Pension für einen Spitalskonzern tätigen Juristin, nichts könne in einem Krankenhaus so wichtig sein, dass man zwischen Freitag und Montag einen sofortigen juristischen Rat benötigen würde, drückt aus, wie wenig man mitunter an der Spitze der Hierar- chie weiß, was man an der Basis benötigt.

Abgesehen davon, dass Sicherheit – und nicht zuletzt Rechtssicherheit – ihren Preis hat und nicht nur rein kostenseitig betrachtet werden darf, ist das Kostenargument durch die 15-jährige Praxiserfahrung des juristischen Notfallkoffers eindeutig widerlegt. Wer jemals ein Kostenverzeichnis ei- nes bis zum Obersten Gerichtshof durchgefochtenen Falles gesehen hat, weiß ganz genau, dass die in einem solchen Verfahren angefallenen Kosten (Gerichtsgebühren, Sachverständigen, Anwaltskosten) einen erheblichen Teil des Streitwerts erreichen, ja diesen in einigen Fällen sogar überschreiten können. Selbst wenn bei einem Fall im Rahmen des juristischen Notfallkoffers einmal fünf Sonntagsüberstunden anfallen sollten, da- mit aber ein jahrelanger, auch auf Patientenseite mühsamer Rechtsstreit verhindert werden sollte, ergibt dies aufseiten des Krankenhausbetreibers langfristig eine enorme Kostenersparnis.

Ein weiteres Hindernis soll nicht verschwiegen werden: die Skepsis, mit der die Gesundheitsberufe dem Juristenberuf gegenüberstehen. Völlig zu Unrecht werden selbst die hauseigenen Juristen und Juristinnen quasi als Gegner betrachtet, mit denen man besser nichts zu tun haben sollte. Da es in vielen Krankenhäusern üblich ist, dass man in die Rechtsabteilung vorgeladen wird, die Juristen und Juristinnen aber – aus vielen, auch per- sönlichen Gründen – die Klinikbereiche tunlichst meiden, lernt man sich oft erst (und dann natürlich auch viel zu spät) bei einem konkret zu bear- beitenden Fall persönlich kennen. Man muss auch als juristisch Tätiger in einem Krankenhausumfeld ein Mindestmaß an medizinischem Interesse mitbringen, möchte man das Vertrauen der Gesundheitsberufe gewinnen. Ich kann aus eigener Erfahrung bestätigen, dass etwa die Teilnahme an einer Amtseinführung oder einer Pensionsabschiedsfeier genau jene Kontakte ermöglicht hat, die dann später in einer Krisensituation extrem nütz- lich waren. Zudem spricht es sich rasch herum, dass einen die Rechtsabteilung in einer schwierigen Situation nicht im Stich gelassen hat.


Die retrospektive Schadensanalyse

Das gesamte Gesundheitswesen zeichnet sich dadurch aus, dass Fehler nicht ger- ne zugegeben und noch weniger dazu genützt werden, ähnliche Vorkommnisse in Zukunft zu verhindern. Jahrhundertelang war es verpönt, ärztliche Entscheidungen – auch wenn sie falsch waren – zu hinterfragen. Das hat sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts grundlegend geändert. Das ärztliche Personal hat auf diesen Wandel noch nicht ausreichend reagiert. Selbst berechtigte Beschwerden werden als (persönlicher) Angriff gewertet und hinterlassen deutliche Spuren. Dass das Recht auf Beschwerde ein fundamentales Patientenrecht darstellt, wird im Medizin- studium viel zu wenig thematisiert. Da in den letzten dreißig Jahren zunehmend

Rechtsanwälte für die Patientenseite tätig werden, hat sich das Unsicherheitsgefühl aufseiten der Medizin noch verstärkt. Der einzig richtige Ansatz besteht darin, dass klargemacht wird, dass eine so qualifizierte Tätigkeit wie die ärztliche Behandlung unmöglich fehlerfrei ablaufen kann, gleich- zeitig aber auch darüber zu informieren, dass mehr als 99 % aller zu einem unerwünschten Ereignis führenden Fehlleistungen entweder als ent- schuldbare Fehlleistung oder als leicht fahrlässig einzustufen sind. Anders gesagt: Weniger als ein Prozent der Fehlleistungen sind als grob fahr- lässig zu bewerten, Vorsatztaten kommen so gut wie nie vor. Auch das Strafrecht behandelt Fahrlässigkeitstaten konsequenterweise ganz anders als Vorsatztaten. Selbst der doch schwerwiegende Vorwurf einer fahrlässigen Tötung im Rahmen einer medizinischen Behandlung muss erst ein- mal schlüssig nachgewiesen werden.

Es klingt vielleicht überraschend, dass einem Krankenhausjuristen die Vermeidung eines ähnlichen Fehlers in der Zukunft wichtiger ist als die Sanktionierung des Verursachers. Und es klingt eventuell auch zynisch, dass Fehlleistungen und daraus resultierende Beschwerden ein gutes Hilfsmittel für Verbesserungen sind. Tatsächlich ist es aber erwiesen, dass die systematische Aufarbeitung von Schadensereignissen langfristige Erfolge zeitigt.

Die sogenannte „retrospektive Schadensanalyse“ ist neben dem juristischen Notfallkoffer das zweite wichtige Werkzeug für die Fehlervermeidung und das Risikomanagement. Bereits seit dem Jahr 2000 werden alle medizinisch assoziierten Schadensereignisse systematisch erfasst und ent- sprechend nach ihren Ursachen kategorisiert. Ein Rückblick auf über 22 Jahre lässt genau erkennen, wie sich die Schadensverläufe einzelner Kli- niken darstellen. Die ärztliche Leitung kann dadurch eine Vielzahl von Fragen beantwortet bekommen: Werden die Aufklärungsmängel weniger?

Gibt es mehr Gerätedefekte? Wie häufig kommen Hygienemängel vor? Die Frageliste lässt sich beliebig fortsetzen. Niemals ist von Bedeutung, welche konkrete Person den Schaden verursacht hat, es reicht völlig aus, die betroffene Berufsgruppe zu kennen.

Die im Rahmen der Schadensanalyse gewonnenen Erfahrungen werden fortlaufend syste- matisch ausgewertet und im Rahmen von Schulungen weitergegeben. Durch den Dialog mit den betroffenen Abteilungen konnte die Schadenszahl in den letzten Jahren um mehr als die Hälfte reduziert werden und viel Leid auf beiden Seiten vermieden werden. Als positiver Nebeneffekt konnte durch die Reduktion der Schadensereignisse auch bei der Haftpflicht- versicherungsprämie eingespart werden. Durch die enge und direkte Zusammenarbeit mit der Haftpflichtversicherung ohne einen dazwischengeschalteten Dritten und die ungefilterte Information über das jeweilige Schadensereignis konnte eine Vertrauensbasis geschaffen werden, die sich in einer effizienten und raschen, überwiegend außergerichtlichen Erledi- gung widerspiegelt.

BUCHTIPP

Einar Sladeček, Leopold- Michael Marzi, Sonja Meißl- Riedl: Recht für Gesund- heitsberufe. Mit allen wichti- gen Berufsgesetzen. 10. neu bearb. Aufl., LexisNexis, 2021