MEDIZIN | Schmerztherapie 

Schmerzthera- pie aus

physiothera- peutischer Sicht

FOTOS: FOTOSTUDIO HELMUT JOKESCH, ISTOCKPHOTO/ GILAXIA

Schmerz ist ein multifaktorielles Phäno- men und stellt sowohl Betroffene als auch Menschen im Gesundheitswesen vor Her- ausforderungen. Die vielen beeinflussen- den Facetten erfordern eine multiprofes- sionelle Herangehensweise, um vor allem Personen mit anhaltenden Schmerzer- krankungen zu unterstützen.

AUTOR: Bernhard Taxer, MSc

Physiotherapeut, Lehrender an der FH

Joanneum Graz am Studiengang

Physiotherapie und Koordinator des

fachlichen Netzwerks Schmerz bei

Physio Austria.

bernhard.taxer@fh-joanneum.at

Allzu oft werden nach wie vor die Begriffe Schmerz und Nozizeption synonym ver- wendet. Während es sich bei Nozizeption um die physiologische Reizverarbeitung hochschwelliger mechanischer, chemischer oder thermischer Inputs handelt, scheint die Schmerzwahrnehmung neben dieser physiologischen Komponente zusätzlich mit dem psychologisch-emotionalen Zustand, der Erfahrung einer Per- son, kulturellen Hintergründen und kognitiven Aspekten assoziiert zu sein. Dies spiegelt sich auch in der aktuellen Definition der International Association for the Study of Pain (IASP) von Schmerz wider: „Schmerz ist ein unangenehmes Sinnes- oder Gefühlserlebnis, das mit einer tatsächlichen oder potenziellen Gewebeschä-

digung einhergeht oder einer solchen ähnelt.“


Bedeutung von Schmerz

Schmerz wird in unserer westlichen Gesellschaft häufiger als ein negatives Phänomen wahrgenommen. Dabei hat sich diese Wahrnehmung das negative Image gar nicht verdient. Im Gegenteil ist es sogar lebensverkürzend, wenn man keine Schmerzen wahrnehmen könnte. Durch die Ge- fahrenmeldung im Rahmen einer Verletzung, einer Infektion oder während einer Erkrankung ist es in der Regel möglich, rechtzeitig adäquate Schritte einzuleiten. In der akuten Situation dient Schmerz daher als Schutzmechanismus und ist immer von verschiedenen Komponenten geprägt. Diese Komponenten beinhalten stets die bereits erwähnten emotionalen Aspekte und biologisch-mechanische Faktoren oder das soziale Umfeld. Aus diesem Grund spricht man seit den 1970er-Jahren vom biopsychosozialen Denkmodell von Schmerz. Dieses Denkmodell ist mit Sicherheit nicht kritikfrei zu betrachten, da es in der Tat im alltäglichen klinischen Handeln schwer umzusetzen ist. Es scheint aber nichtsdestotrotz das aktuell adäquateste zu sein. In den verschiedenen medizinisch-therapeutischen Disziplinen dominiert häufig noch der rein biomedizinische Zugang, wel- cher unter gewissen Umständen auch Erfolge bringt und sinnvoll ist. Internationale und nationale Gesellschaften sind sich jedoch einig, dass eine primäre Herangehensweise aus biopsychosozialer Sicht sinnvoll ist, um gerade komplexere Schmerzsituationen besser zu erfassen. Dies impliziert automatisch auch, dass eine multiprofessionelle Herangehensweise – die Zusammenarbeit verschiedener Gesundheitsberufe – in der Behandlung von Schmerzen zielführend sein kann.


Anhaltende Schmerzen und die ICD-11

Eine große Herausforderung für alle Beteiligten, vor allem für die Betroffenen, stellen chronische Schmerzsyndrome dar. Man muss davon ausge- hen, dass Schmerz bei dieser Form der Symptomatik seine ursprüngliche Funktion der Warnung verloren hat. Sensibilisierungsprozesse führen dazu, dass man auf weniger Reiz mit einer erhöhten Antwort zu rechnen hat. Dabei handelt es sich um hochkomplexe Vorgänge, deren komplette Klärung immer noch Gegenstand aktueller Forschung ist. Dass es zu solchen Sensibilisierungsprozessen kommt, scheint unterschiedliche Gründe zu haben. Psychologische Faktoren wie Angst und Depression spielen ebenso eine Rolle wie unser Immunsystem und die Zeitspanne, über die der Schmerz besteht.

Laut IASP leiden weltweit circa 20 % der Bevölkerung an chronischen Schmerzen. Mit der ICD-11 wurde erstmals der chronische Schmerz einer eigenen Kodierung, d. h. Diagnose und insofern einem eigenen Krankheitsbild zugeordnet. Dies soll zur Folge haben, dass Menschen mit chronischen Schmerzkrankheiten die Aufmerksamkeit be- kommen, die ihnen zusteht, um eine adäquate Versorgung zu gewährleisten.

Während über der gesamten Klassifizierung mit der Kodierung „MG30 Chronischer Schmerz“ einzig Schmerz verstanden wird, welcher länger als drei Monate bestehen bleibt, unterteilt es sich in weiterer Folge in chronisch primären Schmerz (z. B. chronic widespread pain, Fibromyalgie oder das komplexe regionale Schmerzsyndrom) und chronisch sekundäre Schmerzsyndrome (u. a. chronisch Tumor-assoziierter Schmerz oder chronisch sekundärer neuropathischer Schmerz).

Bei den chronisch primären Schmerzerkrankungen handelt es sich um Schmerzen in mehreren Regionen, welche durch signifikanten emotionalen Distress (Angst und De-

pression) und eine massive funktionelle Einschränkung (Aktivität und Partizipation) gekennzeichnet sind. Hierbei wird im Rahmen der ICD-11-Klas- sifikation einmal mehr der biopsychosoziale Aspekt hervorgehoben.


Der physiotherapeutische Zugang

Neben der ärztlichen Behandlung spielt die Physiotherapie eine immer wichtiger werdende Rolle. Vor allem bei Schmerzen am Bewegungsapparat zeigt sich, dass Physiotherapie eine effektive Begleitung ist. Physiotherapeuten, die ihre Ausbildung im Rahmen eines dreijährigen Fachhochschul- studiums mit Bachelor-Abschluss absolvieren, nutzen zur Behandlung von akuten und chronischen Schmerzzuständen manualtherapeutische bzw. passive Maßnahmen sowie aktives Beüben und Training von möglicherweise verlernten oder eingeschränkten Bewegungsmustern. Veränderte bzw. maladaptive Bewegungsmuster müssen nicht zwangsläufig für die vorhandenen Schmerzen verantwortlich sein, können diese allerdings aufrechterhalten.

Physiotherapeuten wird die Aufgabe zuteil, im Rahmen eines sogenannten Clinical-Reasoning-Prozesses gefährliche Pathologien, sogenannte Red Flags, zu erkennen und im besten Fall auszuschließen. Wenn Schmerzen schon lange bestehen, ist es wesentlich, mittels des besagten biopsy- chosozialen Denkmodells die jeweilige Dominanz der Teilbereiche zu beurteilen. Menschen mit anhaltenden Schmerzsyndromen – zu den häufigs- ten zählt der chronische Rückenschmerz – weisen oft psychosoziale Faktoren auf. Diese können Schmerz ungünstig aufrechterhalten.

Wie helfen Physiotherapeuten im Akutfall? Schmerzlindernde Maßnahmen kommen ebenso zum Tragen wie eine an die jeweilige Wundheilung an- gepasste körperliche Aktivierung. Aktives Training und edukative Maßnahmen bilden bei anhaltenden Problemen den Schwerpunkt. Dass eine pas- sive Intervention – zum Beispiel manuelle Therapie oder die Behandlung verspannter Muskulatur – hilfreich sein kann, ist bekannt. Langfristig er- folgreich ist man allerdings nur, wenn der Patient stufenweise wieder Aktivitäten aufnimmt. Insgesamt ist es notwendig, solche Beschwerden mittels eines multimodalen, interdisziplinären Zugangs zu begleiten. Dabei spielt die Kommunikation zwischen den behandelnden Ärzten, Physiothera- peuten, Psychologen und weiteren Beteiligten wie auch den Angehörigen eine wesentliche Rolle.