FOTOS: PHYSIO AUSTRIA/HECHENBERGER, ISTOCKPHOTO/ MIXETTO
Physiotherapie:
Partner in der Primärversorgung
Primärversorgungseinheiten bedeuten kürzere Wege für die Patienten, stärken den multiprofessio- nellen Austausch und haben enormes Potenzial bei Prävention und Gesundheitsförderung.
Der geplante Ausbau der Primärversorgungslandschaft ist eines der wesentlichen gesundheitspolitischen Ziele. 75 Primärversorgungseinheiten (PVE) – Zentren oder Netzwerke – waren bis zum vergangenen Jahr geplant. De facto sind es derzeit 36. Aus Sicht vieler Patienten sind die PVE die erste Anlaufstelle bei gesundheitlichen Beschwerden. Die flächendeckende Umsetzung und Weiterentwicklung dieses Modells der Primärversor- gung ist auch aus Sicht der Physiotherapie ein dringliches Anliegen. Eine Erweiterung des Angebotes sowohl in die Fläche, das heißt in allen Bun- desländern dieses Modell zu etablieren, als auch für Kinder ein Angebot zu schaffen, begrüßen wir sehr.
Beitrag der Physiotherapie
Die bisherige Erfahrung zeigt deutlich, dass die effiziente Zusammenarbeit der Primärversorgungsteams ein entscheidender Erfolgsfaktor ist. Die gebündelten Kompetenzen und Ressourcen von Ärzten und Vertretern der nichtärztlichen Gesundheitsberufe tragen sehr zur Zufriedenheit der Pati- enten bei. Sie reduzieren die Wege für die Patienten und entsprechen den Qualitätsansprüchen bzw. sichern die Qualitätsstandards für beide Sei- ten. In der modernen Primärversorgung kann diese multiprofessionelle Zusammenarbeit gut gelebt werden. Physiotherapeuten sind Experten für den Bewegungsapparat. Ziel der Physiotherapie sind die Förderung, die Erhaltung und die Wiedererlangung der physiologisch bestmöglichen Funktionsfähigkeit. Die Begleitung der Patienten basiert auf den Ebenen Funktion, Aktivität und Partizipation. Dies stets unter Einbeziehung der Wechselwirkungen zwischen dem Bewegungs- und dem Organsystem.
Screenings und Assessments
Screenings und Assessments sind ein sehr relevantes Beispiel für das Zusammenwirken der Kompetenzen. Screenings sind ein gutes Instrument, um Risikofaktoren herauszufiltern. Sie geben eine Orientierung, in welche Richtung die erste Kanalisierung erfolgen soll, das heißt, auch in Richtung welcher Profession. Sie sind keineswegs als Ersatz zur ärztlichen Diagnose zu sehen, sondern als wesentlicher Bestandteil des multiprofessionellen Behandlungsprozesses. Als Beispiel sei dazu die multimodale Schmerztherapie genannt. Dabei werden die Patienten von drei Professionen – Ärz- ten, Psychologen und Physiotherapeuten – begutachtet und je nach erforderlichem Schwerpunkt der folgenden Behandlung die Fallführerschaft entschieden. Es ist wünschenswert, Physiotherapeuten entsprechend ihren Fähigkeiten und Kompetenzen auch in der Fallführerschaft im multipro- fessionellen Team einzusetzen. Damit kann vermehrt den Patienten zeitnah die erforderliche Behandlung zuteilwerden und dies kann auch zu einer Entlastung der Ärzte führen.
Zeit für multiprofessionellen Austausch
Physio Austria hat im vergangenen Jahr eine Blitzumfrage bei den in PVE tätigen Physiotherapeuten gemacht. 90 % von ihnen bringen ihre Experti- se in einem Zentrum, 10 % in einem Netzwerk ein. Dabei sind die Kollegen in unterschiedlichen Stundenausmaßen pro Woche für ihre Patienten da. Drei von vier Befragten sind in der PVE angestellt, ein Viertel arbeitet auf freiberuflicher Basis. Die freiberuflich Tätigen sind überwiegend in den Netzwerken mit geringerem Stundenausmaß tätig. Die Angestellten meist in den Zentren mit höherem Stundenausmaß. Die Blitzumfrage wurde auch genutzt, um bisherige Erfahrungen in PVE zu evaluieren bzw. auch Bedürfnisse und Anforderungen für den weiteren Ausbau des Modells zu orten. Nach den Möglichkeiten zur Optimierung befragt, gab es vorrangig folgende Anmerkungen: Verbesserung der organisatorischen Rahmenbe- dingungen. Dazu wurden die Raumaufteilung, die Zeit für den multiprofessionellen Austausch und mehr Zeit für die Dokumentation angeführt. Die Optimierung der Kommunikation wurde am häufigsten genannt und als Beispiele dafür wurden die Anbindung an den elektronischen Datenaus- tausch sowie die Honorierung von Teambesprechungen angeführt.
Physiotherapie in der Gesundheitsförderung
Die Erfahrungen der vergangenen Jahre zeigen auch, dass mit der Einbindung der umfassenden Kompetenzen der Physiotherapie im Bereich der Gesundheitsförderung, der Prävention und der Stärkung der Gesundheitskompetenz Leistungen als wesentliche Basisaufgaben in den PVE erwei- tert werden können. Das umfasst zum Beispiel Maßnahmen zur Sturzprävention, im Konkreten die Beratung und Schulung von pflegenden Angehö- rigen. Diese Beratung und Edukation pflegender An- und Zugehöriger kann auch der Prävention negativer Auswirkungen durch die Pflegetätigkeit dienen. Im Kontext des häuslichen Umfeldes oder am Arbeitsplatz kann die ergonomische Beratung eine zusätzliche Leistung sein; angesichts der steigenden Zahl an Homeoffice-Lösungen eine aktuelle und dringliche Expertise. Auch in der betrieblichen Gesundheitsförderung ist das Know- how der Bewegungsexperten ein Mehrwert für Mitarbeiter und Unternehmer. Die Einbindung von Physiotherapeuten in Gründungsberatungsteams wäre ein sinnvoller Ansatz, um das komplette Leistungsspektrum von der Gesundheitsförderung, der Prävention bis hin zur Rehabilitation darzustel- len. Nebst den bereits genannten sind das auch Leistungen der primären, sekundären und tertiären Prävention mit dem Fokus auf das Bewegungs- system. Dies umfasst auch Maßnahmen zur Betreuung bei chronischen Erkrankungen wie zum Beispiel Diabetes, Asthma, COPD oder bei Herz- Kreislauf-Erkrankungen.
Finanzierung und Stellenplanung
Nachdem die Physiotherapie nicht Teil der Kernteams ist, ist bis dato auch kein definierter Versorgungsschlüssel und demzufolge kein Stellenplan erkennbar. Für den weiteren Ausbau der PVE sind die Erstellung einer Versorgungslandkarte sowie die Erarbeitung eines Versorgungsschlüssels unter Berücksichtigung demografischer Besonderheiten wichtig. Daraus resultiert ein Stellenplan, der wiederum bei der weiteren Finanzierung und den Rahmenverträgen mit den Sozialversicherungsträgern relevant ist. Eine gesamtvertragliche Lösung analog zu jener der Ärzte sollte ein nächs- ter Schritt sein. Die Einbeziehung der Interessensvertretungen der nichtärztlichen Gesundheitsberufe in diese Verhandlungen ist absolut erforderlich.
Fazit und Ausblick
Die Physiotherapeuten blicken dem weiteren Ausbau des Primärversorgungssystems positiv entgegen. Bestehende Hürden müssen dazu abge- baut werden und nach der „Entschleunigung“ des Ausbaus durch die Covid-19-Pandemie muss wieder vermehrt Fahrt aufgenommen werden. Durch die Auswirkungen der Pandemie ist die Bedeutung der Primärversorgung als tragende Säule im Gesundheitswesen unterstrichen worden. Der multiprofessionelle Austausch muss zum Wohle der Patienten laufend evaluiert und optimiert werden.