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Die frühe Ernährung programmiert den Stoffwechsel langfristig. Diese Studienergebnisse legt die Verwendung proteinarmer Fläschchennahrung bei Säuglingen nahe. Experten plädieren darüber hinaus für eine intensive El- ternberatung, damit das „richtige Produkt zur richtigen Zeit“ eingesetzt wird.
Speziell in den ersten zwei Jahren werden bei Säuglingen die Weichen für ihre zukünftige Ernährung gelegt. Nährstoffe werden primär über die Muttermilch aufgenommen, die sich den laufend ändernden Bedürfnis- sen des Babys anpasst. Dr. Mike Poßner, Medical Director von Nestlé Nutrition, gibt aktuelle Einblicke in die neuen Entwicklungen rund um Ba- bys Eiweißbedarf und diskutiert gemeinsam mit Univ.-Prof. Dr. Daniel Weghuber, Facharzt für Kinder- und Jugendheilkunde, sowie Hebamme Katharina Wallner den Stellenwert eines Stufenkonzeptes bei Folgenahrung.
? Die Eiweißmenge in der Muttermilch reduziert sich schrittweise. Was hat sich die Natur dabei gedacht?
Weghuber: Eiweiß ist ein zentraler Baustoff für das Wachstum. Kinder verdreifachen im ersten Lebensjahr ihr Körpergewicht und verdoppeln ihre Körpergröße. Die Frühe-Protein-Hypothese besagt, dass eine über dem Bedarf liegende Eiweißzufuhr den Stoffwechsel negativ und lang- fristig programmieren kann. Eine zu hohe Zufuhr an Milchproteinen im Säuglingsalter führt hingegen zur vermehrten Versorgung mit bestimm- ten Aminosäuren, die Insulin freisetzen und eine Fettzellenbildung be-
schleunigen. Das führt zur Zunahme des Gewichtes und es kann zu einer frühen Programmierung eines beständigen Adiposi- tas-Risikos kommen. Umgekehrt kann eine verringerte Proteinaufnahme von Säuglingen zu einer langfristig gesunden Gewichts- entwicklung bei Kleinkindern beitragen. Der Eiweißbedarf des Kindes ist zwar am Anfang recht hoch, nimmt aber über die Zeit kontinuierlich ab. Das Wachstum des Säuglings kann somit durch eine Absenkung des Proteingehaltes in der Säuglingsmilch dauerhaft unterstützt werden.
?Warum ist das Zeitfenster der ersten „1.000 Tage“ ein so wichtiger Meilenstein in der Ernährung von Säuglingen?
Wallner: Ein besonders prägendes Zeitfenster sind die ersten 1.000 Tage – von der Schwangerschaft bis zum zweiten Geburts- tag. Heute weiß man beispielsweise, dass Frauen, die übergewichtig und mit schlechten Ernährungsgewohnheiten schwanger werden, das Risiko erhöhen, dass ihr Kind später mit Übergewicht zu kämpfen hat. Wird ein Baby gestillt, erhöht sich nachweis- lich der Schutz vor Allergien, Adipositas, Typ-2-Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen um 25 bis 40 %. Wenn nicht gestillt werden kann, stellt Anfangssäuglingsnahrung die beste Alternative dar, bis ein Baby schließlich mit dem Essen von fester Nah- rung beginnt. Wann genau das ist, hängt sehr von der individuellen Entwicklung ab. Der Beikoststart sollte aber nicht vor Beginn der 17. Lebenswoche und nicht nach Ende der 26. Lebenswoche erfolgen.
?Welche Rolle spielt die frühe Ernährung bei der Adipositasprävention?
Weghuber: Eine wirksame Prävention von Übergewicht bei Kindern wird nicht durch einzelne Interventionen erreicht, sondern durch ein Bündel an Maßnahmen. Besonders wichtig ist die Ernährung des Säuglings, hier vor allem die Förderung gesunder Essgewohnheiten und die Begrenzung des Konsums zuckerhaltiger Getränke ab der frühen Kindheit. Das häusliche Umfeld ist besonders für kleine Kinder wichtig und kann durch Aufklärung und Stärkung der Familien verbessert werden. Schul- und gemeindenahe Interventionen wie Qualitätsstandards für Lebensmittel oder die Beschränkung der Lebensmittelwerbung für Kinder können hilfreich sein. Wir wissen auch, dass Stillen das Risiko für Übergewicht reduziert. Die Auswahl und Vielfältigkeit der Lebensmittel zu Beikostbeginn, die Geschwindigkeit der Einführung und andere Faktoren beeinflussen ebenso das spätere Ernährungsverhalten des Kindes.
? Lässt sich schon vor oder während der Schwangerschaft mit der Ernährung die weitere Entwicklung beeinflussen?
Wallner: Ernährungsthemen fallen bei Frauen mit Kinderwunsch naturgemäß auf fruchtbaren Boden, weil man ein „gutes Nest“ bauen will. Frauen sollten daher ihr Gewicht regulieren und über die Ernährung gute Voraussetzungen für den Nach- wuchs schaffen. Es gibt bestimmte kritische Nährstoffe, die man sich nur über die Ernährung oder über Supplemente holen kann, wie etwa Folsäure. Zirkulieren die Nährstoffe im Körper der Frau, so gelangen sie über die Nabelschnur zum Kind und können dort schon in Depots eingelagert werden. Schwangere sollten daher nicht nur essen, um satt zu werden, sondern um sich und das Baby bestmöglich mit Nährstoffen zu versorgen.
?Was kann die Mutter nach der Geburt beitragen, damit die Ernährung des Babys optimal klappt?
Wallner: Stillende haben einen Mehrbedarf von etwa 500 Kalorien. Dennoch sollte nicht „für zwei“ gegessen werden. Es kommt nicht auf die Quantität, sondern die Qualität an. Nicht alle Kinder reagieren auf alle Lebensmittel gleich, es gilt daher auszuprobieren, was zum Beispiel Blähungen oder Hautrötungen im Windelbere- ich verursacht.
?Wie kann der Stillerfolg erhöht werden?
Wallner: Fast alle Mütter sind meist sehr hochmotiviert zu stillen. Sie benötigen aber auch Unterstützung, denn oft geht das „natür- lichste Thema“ doch nicht von selbst. Manche Kinder müssen das Saugen erst lernen, auch die Form der Brustwarzen kann das Stillen mitunter schwierig machen. Daher nehmen sich Hebammen, Stillberaterinnen und Kinderkrankenschwestern dieses Themas besonders an, damit die anfängliche Motivation nicht verloren geht. Ob und wann zugefüttert werden muss, hängt vom Gewicht des Säuglings ab.
?Um einer Überversorgung mit Milchprotein vorzubeugen, wurde der Mindestgehalt von Proteinen in der Säuglingsmilch- nahrung innerhalb der EU gesenkt. Wie kann das umgesetzt werden und worauf ist bei Fläschchennahrung zu achten?
Poßner: Bei der Fläschchenfütterung ist es umso wichtiger, die Sättigungssignale des Babys wahrzunehmen. Die Zubereitungsan- leitung ist als Maximalwert anzusehen. Die individuelle Trinkmenge kann sehr verschieden sein. Wenn ein Kind zeigt, dass es satt ist, so sollte man das unbedingt akzeptieren. Entscheidend ist auch hier die Gewichtszunahme. Wir wissen aus Erfahrung, dass bei der Folgenahrung tendenziell mehr zugefüttert wird. Eine aktuelle Studie belegt auch, dass sich 78 % der Eltern nicht an die Zube- reitungsempfehlungen halten und überdosieren. Bei einer so geringen Menge von 200 ml kann ein wenig mehr an Pulver schon die Qualität der Flasche völlig verändern.
?Warum dosieren so viele Eltern immer noch falsch?
Poßner: Das ist eine gemeinsame Verantwortung von Eltern, Kinderärzten, Hebammen und der Forschung sowie Anbietern von Fol- genahrung. Wir haben zum Beispiel Zubereitungsvideos online. Es war noch nie so einfach, den beigepackten Löffel zu nehmen, abzustreichen und damit richtig zu dosieren. Es bedarf unermüdlicher Aufklärung, dass die richtige Dosierung ein Kernelement der Folgenahrung ist.
? Kann man von der Muttermilch lernen?
Poßner: Muttermilch stellt ein natürliches, dynamisches Stufensystem dar, das ein Kind stets altersgerecht mit der richtigen Menge Eiweiß in optimaler Qualität versorgt. Nach etwa drei bis vier Monaten verändern sich die Zusammensetzung und der Eiweißgehalt. Damit ist Stillen die Grundlage für gesundes Wachstum und Prävention vor einer unerwünschten beschleunigten Gewichtszunah- me. Stillen ist die beste Ernährung für jeden Säugling. Gleichzeitig ist konsequente Forschung wichtig, um mögliche Alternativen zu optimieren. Nestlé betreibt intensive Forschungen, um die Dynamik und Zusammensetzung der Muttermilch zu verstehen. Darauf basierend ist es gelungen, ein altersangepasstes Stufensystem zu entwickeln, das eine altersentsprechende Eiweißzufuhr des Säuglings in optimaler Qualität im Laufe des ersten Lebensjahres und darüber hinaus sicherstellt. Bei der Anfangs- und Folgenah- rung orientieren wir uns den wissenschaftlichen Empfehlungen entsprechend eher am gesetzlich vorgeschriebenen Minimum.
?Was waren die Herausforderungen bei der Umsetzung des Stufensystems?
Poßner: Erstmal überhaupt die Erkenntnis zu gewinnen, wie Muttermilch funktioniert. Natürlich ist Stillen der beste Weg, aber wenn das nicht klappt, müssen wir an der technologisch bestmöglichen Alternative arbeiten. Einfach weniger Proteine beizumengen, war nicht die Lösung, denn es gibt Aminosäuren, die der Körper nicht selbst produziert, daher mussten wir intensiv an der richtigen Zu- sammensetzung in Qualität und Quantität forschen.
?Anfangsmilch und Folgemilch – wie waren sie bisher zusammengesetzt?
Poßner: Folgemilch war vor zehn oder 15 Jahren noch deutlich energiereicher. Wir hatten etwa 67 Kalorien bei Anfangsnahrung und 80 Kalorien bei Folgenahrung. Heute hat sich der kalorische Maximalwert deutlich nach unten reduziert. Der heutige Maximal- wert für Eiweiß von 2,5 Gramm pro Kilokalorien lag früher bei 3,5 Gramm pro Kilokalorien. Die Folgemilch muss nicht sämiger wer- den, denn das ist die Muttermilch ja auch nicht – darauf basiert auch das Stufenkonzept. In der modernen Folgemilch ist Laktose das einzige Kohlenhydrat. Früher war die Eiweißmenge von der Frage nach der Zufuhr essenzieller Aminosäuren getrieben, weil man die heutige Proteinqualität nicht zur Verfügung hatte.
?Folgemilchen wurden häufig kritisiert – hat sich das verändert?
Weghuber: Die rechtlichen Rahmenbedingungen waren unterschiedlich, von der Herstellung bis hin zur Werbung. Es ist erfreulich, dass sich jetzt die Aufmerksamkeit auf den Inhalt konzentriert und die Folgemilch auf den reduzierten Eiweißbedarf der Kinder Rücksicht nimmt. Im Zuge der kritischen Auseinandersetzung mit dem Thema lernen wir laufend dazu.
rh