Alkohol-Abhängigkeit (alcohol dependence, AD) ist ein weltweites und für die Gesellschaft sehr teures Problem. In Österreich werden etwa 5 % der erwachsenen Bevölkerung ab 15 Jahren als alkoholabhängig eingestuft (2,5 % der Frauen und 7,5 % der Männer). Das sind ungefähr 370.000 Menschen (www.dialogwoche-alkohol.at/wissen/zahlen- fakten).
Zu den allgemeinen volkswirtschaftlichen Kosten des Produktivitätsausfalls kommt eine beträchtliche Belastung des Gesundheitssystems hinzu, mit ge- schätzten Kosten zwischen € 1.591,- und € 7.702,- bei einer Hospitalisierungs- dauer zwischen elf und 28 Tagen (Laramée et al., 2013). Unter Einbeziehung der Kosten für den Produktivitätsverlust ergaben sich in einer deutschen Un- tersuchung Mehrkosten gegenüber anderen Patienten von € 1.836,- pro sechs Monate (Manthey et al., 2016). Etwa 200 verschiedene (Folge-) Erkrankungen werden mit Alkohol-Abhängigkeit in Verbindung gebracht (WHO 2022, https://www.who.int/news-room/fact-sheets/detail/alcohol). Primäre Behand- lungsziele einer Alkohol-Abhängigkeit sind Abstinenz, Reduktion der Rückfäl- ligkeit und Verbesserung der physischen und psychischen Gesundheit (EMA 2010). Nachstehend berichten wir über positive Erfahrungen einer Comedikati- on mit magistralem Phyto-Cannabidiol (CBD) in pharmazeutischer Qualität (CBD Reinheitsgrad >99,8 %, Fa. Trigal Pharma, Wien) im Rahmen einer Ent- zugsbehandlung an unserer Abteilung.
Fallbeschreibung
Die Patientin wurde an unserer Abteilung erstmals im April 2020 im Alter von 35 Jahren mit deutlich reduziertem Allgemeinzustand (53 kg) und Fettleberhepatitis zur Alkohol-Entzugsbehandlung aufgenommen. Seither erfolgten über die letzten zwei Jahre hindurch insgesamt acht Aufenthal- te für Entzugsbehandlungen bzw. an psychiatrischen und somatischen Abteilungen, mit einer durchschnittlichen Aufenthaltsdauer von 4,7 Wo- chen. Anamnestisch ist ein erstmaliger Alkoholkonsum im Alter von 14 Jahren bekannt, eine chronische Alkohol-Abhängigkeit besteht seit etwa zehn Jahren. Weiters erfolgten zwei Suizidversuche mit einer Medikamentenüberdosis im Alter von 17 und 23 Jahren. Eine familiäre und soziale Belastung ist ebenfalls bekannt (Mutter mehrere Jahre alkoholabhängig, Großvater an alkoholischer Leberzirrhose verstorben, sexueller Miss- brauch durch Lebensgefährten). Im Schnitt konsumierte die Patientin nach eigenen Angaben etwa 2-3 l Wein/Tag (entsprechend ca. 160-240 g rei- ner Alkohol pro Tag). Als tägliche Dauermedikation erhielt die Patientin Modasomil, Efectin ER, Trittico ret., Aripiprazol, Pregabalin ACC, Lamictal, Lasilacton, Ascalan, Pantoloc, Thyrex, Sucralan, Truxal und Atarax sowie Quetiapin +PH und Paspertin bei Bedarf (relevante Begleitdiagnosen: bi- polare affektive Störung, emotional instabile Persönlichkeitsstörung, post-traumatische Belastungsstörung, Hypothyreose).
„Add-on“-Therapie mit CBD
Nach eigenen Angaben begann die Patientin im November 2021 am Schwarzmarkt erworbenes Cannabis zu rauchen. Ihrem Gefühl nach half ihr dies erstmalig über längere Zeit abstinent zu bleiben. Bis zum Aufenthalt im Dezember 2021, wo erstmals von uns Cannabidiol (CBD) als Comedi- kation verbreicht wurde, waren die Entzugsbehandlungen von regelmäßigen Rückfällen innerhalb längstens einer Woche nach Entlassung gekenn- zeichnet. Anläßlich der erwähnten Aufnahme im Dezember 2021 wurde daher die Entzugsbehandlung unsererseits mit einer Comedikation von ma- gistral hergestellten 10%igen Phyto-Cannabidiol-Tropfen unterstützt. Die CBD-Dosis wurde schrittweise über einen Zeitraum von vier Wochen von 20 Tropfen/Tag (64,4 mg/d) auf 160 Tropfen (515 mg/d) gesteigert. Mit der Dosissteigerung von CBD konnte die Patientin ihre Bedarfsmedikation (Dominal bei Schlafstörungen, Lyrica und einmalig Truxal) fast gänzlich einstellen. Ebenso wurde die Patientin in ein psychotherapeutisch ausge- richtetes, multimodales und störungsspezifisch orientiertes Stabilisierungsprogramm integriert (Psychoedukation, einzel- und gruppentherapeuti- sche Gespräche, tagesstrukturierende Beschäftigungstherapie, Achtsamkeitstraining, aktivierendes gesundheitsförderndes Gehtraining und ange- leitete Freizeitgestaltung).
Unter dieser Behandlung inklusive von CBD wurde das physische und psychische Zustandsbild merklich gebessert. Die anhaltende, immer wieder beklagte, sowohl innerliche als auch motorische Unruhe wie auch intermittierende Spannungszustände nahmen an Intensität und Frequenz des Auftretens ab. Alkohol-Craving sistierte komplett. Parallel dazu halbierte sich auch ihr Zigarettenkonsum von 40 auf 20 pro Tag. Weiters besserten sich zwischen Juli 2021 und Dezember 2021 die Leberfunktionsparameter, γGT von 424 auf 212 U/L, ASAT/GOT von 60 auf 40 U/L und AP von 188 auf 179 U/L. Nach Entlassung, Anfang Jänner 2022, nahm die Patientin den Konsum von gerauchtem Cannabis wieder auf und konnte nach eige- nen Angaben erstmals für mehr als vier Wochen auf den Konsum von Alkohol gänzlich verzichten.
Im Verlauf eines weiteren, sechswöchigen stationären Aufenthaltes von Ende April bis Anfang Juni 2022 wurde erneut CBD (einschleichend über vier Wochen) in der oben angeführten Dosierung verabreicht. Zwischen der erstmaligen Comedikation mit CBD im Dezember 2021 und der neuer- lichen Aufnahme im April 2022 besserten sich die Leberfunktionsparameter abermals, γGT von 212 auf 166 U/L (zweieinhalb Wochen nach Auf- nahme nochmals auf 128 U/L), ASAT/GOT von 40 auf 20 U/L und AP von 179 auf 140 U/L. Anfänglich nahm die bereits oben beschriebene psychi- sche Wirkung etwas ab. Wie bei der vorigen Aufnahme im Dezember 2021 reduzierte sich erneut Alkohol-Craving. Es kam zwar zu Craving-Ge- danken, aber wirklich nur in minimaler Ausprägung und gut von der Patientin bewältigbar. Truxal und Atarax wurde nur mehr bei Bedarf eingenom- men, nur gelegentlich traten schwierige affektive Zustände auf. Insgesamt kann aber doch von einer deutlichen Besserung des psychischen und physischen Zustandsbildes nach Etablierung von CBD-Tropfen ausgegangen werden. Bemerkenswert ist auch die Verlängerung der Zeitspanne von der vorletzten bis zur letzten Aufnahme Ende April 2022 auf 108 Tage (Mittelwert der letzten zwei Jahre 43,1 Tage).
Verbesserte Lebensqualität
In der wissenschaftlichen Literatur gibt es eine anhaltende Diskussion darüber, ob Cannabis eine Ersatzdroge für Alkohol ist (was einen verringer- ten Alkoholkonsum bewirkt) oder als eine Ergänzung dient, d. h. zur Verstärkung der Wirkung von Alkohol (was zu einer Erhöhung des Alkoholkon- sums führt; Gunn et al., 2022). Die Verwendung von Cannabis als Ersatz für Alkohol und zur Unterdrückung von Craving ist bei Personen mit chro- nischem Alkoholmissbrauch nicht ungewöhnlich. Eine kanadische Machbarkeitsstudie zu verschiedenen Alkoholentzugsprogrammen kam zu dem Schluss, dass Cannabis als das geringere Übel als Ersatz für Alkohol durchaus in Betracht gezogen werden sollte (Pauly et al., 2021). Eine eben- falls rezente, unter naturalistischen Bedingungen durchgeführte Beobachtungsstudie an 120 sowohl Cannabis- wie Alkohol-konsumierenden Er- wachsenen ergab, dass Teilnehmer, die CBD-reiches Cannabis konsumierten, signifikant weniger Drinks pro Trinktag zu sich nahmen und signifi- kant weniger Alkoholkonsumtage hatten sowie auch weniger kombinierte Alkohol- plus Cannabis-Konsumtage im Vergleich zu den beiden Kontroll- gruppen (THC-reiches Cannabis, Cannabis mit ausgewogenem CBD-THC-Verhältnis). Zwischen der THC- und der CBD + THC-Gruppe zeigten sich hingegen keine Unterschiede; mit anderen Worten, lediglich CBD-reiches Cannabis reduzierte den Konsum signifikant (Karoly et al., 2021). Dies steht im Einklang mit Untersuchungen an verschiedenen Tiermodellen, wo gezeigt werden konnte, dass CBD nicht nur den Alkoholkonsum und das Verlangen (Craving) nach Alkohol reduzierte, sondern auch Alkohol-bedingte Veränderungen der Leber (Steatose, Fibrose) und Entzün- dungszeichen reduzierte (De Ternay et al., 2019, Navarette et al., 2021). Der hier geschilderte Fall ist nach unseren Recherchen der erste, der auch am Menschen den positiven Effekt von reinem, pharmazeutischem CBD bei Alkohol-Abhängigkeit dokumentiert.
Im Gegensatz zu Cannabis, das stets mehr oder minder große Beimengungen des psychotropen delta-9-Tetrahydrocannabinol (THC) enthält, ist das von uns eingesetzte CBD frei von psychotomimetischen Begleiterscheinungen. Daher ist selbst bei einem plötzlichen Absetzen keine Entzugs- symptomatik zu befürchten. Inwieweit im vorliegenden Fall Cannabis bei der Verringerung des Alkoholkonsums mitbeteiligt ist, bleibt im Hinblick auf die oben erwähnten Studien unklar. Fest steht, dass CBD während des stationären Aufenthalts wesentlich dazu beitrug, die psychische und physische Situation der Patientin zu bessern, was unter anderem auch durch verbesserte Leberfunktionswerte gezeigt werden konnte. Es wäre da- her, volkswirtschaftlich betrachtet, sinnvoll, dass gerade bei jungen Personen die Allgemeinheit die Kosten einer Weiterbehandlung mit CBD über- nimmt, bevor seitens Alkohol-abhängiger Patienten auf Schwarzmarkt-Cannabis zweifelhafter Qualität mit möglicherweise neuen, unerwünschten Langzeitfolgen zurückgegriffen wird.