MEDIZIN I Schmerz

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Schmerz: Entstehung und Chronifizierung

Auslösung, Weiterleitung, Verarbeitung und thera-

peutische Konsequenz von Schmerz.

Schmerz repräsentiert die wohl wichtigste Warn- und Schutzfunktion zur Erhal- tung der körperlichen Integrität und letztlich der Lebensfähigkeit eines Organis- mus. Die auslösenden Mechanismen sind aber keineswegs auf tatsächliche Verletzungen von Gewebsstrukturen beschränkt. Sie decken ein weites Spek- trum von möglicherweise bedrohlichen Expositionen wie Hitze, Kälte, Chemikali- en, Sonnenbestrahlung, Gewebszerrung, Druck, Berührung, Dehnung, Gewebs- hypoxie, Entzündung und osmotischen Gewebsstress ab.


Interneuronales Netzwerk

Die Wahrnehmung der genannten Expositionsmöglichkeiten erfolgt über stimulationsspezifische Rezeptoren, die an den distalen Nervenendigungen der pseudounipolaren Rückenmarks- bzw. Nervus Trigeminusganglien lokalisiert sind, während die proximalen Endigungen über Synapsen mit Ganglien des Hinterhornes bzw. jene des N. Trigeminus mit Terminationskernen wie nucleus ponti- nus und nucleus spinalis N.Trigemini kommunizieren. Die im Hinterhorn eingehenden Signale werden durch exzitatorische (Trans- mitter = Glutamat) und inhibitorische (Transmitter = GABA und/oder Glycine) Interneurone moduliert und an Projektionsneurone weitergeleitet. Letztere geben die Signale an bestimmte Hirnareale weiter und sind auch für die primäre Diskrimination der Noxe zuständig. So scheinen Projektionsneurone der Lamina I, die Substanz P und Neurokinin-1-Rezeptoren exprimierend für die Ab- grenzung des Ausmaßes einer Noxe und die Entwicklung der sekundären Hyperalgesie verantwortlich zu sein, während Projekti- onsneurone der Lamina II für die exakte örtliche Zuordnung einer Noxe zuständig sind. Lamina-III- und -IV-Projektionsneurone hin- gegen erhalten neben primären Afferenzen aus Spinalganglien auch deszendierende serotoninerge (inhibitorische) axone von me- dullären raphe Kernen und von lokalen GABA-ergen- und Neuropeptid-Y-Interneuronen. Die Komplexität dieses interneuronalen Netzwerkes wird durch eine Vielfalt an Rezeptoren erweitert, welche einerseits an peripheren Nozizeptoren und andererseits an den prä- und postsynaptischen Membranen integriert sind.

Rezeptoren der TRP-Klasse (Transient-Receptor-Potential) ermöglichen an peripheren Rezeptoren die Temperaturempfindung und gleichzeitig deren Differenzierung in noxische und nicht noxische Wärme mit Sollwerten von 41°  (TRPV1) 52° (TRPV2) 33° (TRPV3) und 27° (TRPV4) aber gleichzeitig auch von Kälte (TRPM8) wobei die Differenzierung von Kälte in noxische und nicht noxische Gradienten der zusätzlichen Aktivierung von Natriumkanälen (NaV1.8 und 1.9) sowie spezieller Kaliumkanäle (TRAAK, TREK-1 sowie anderer TRP Subtypen wie TRPA1 und TRPC5 bedarf. An sogenannten Polymodalen nonpeptidergen C-Fasern be- finden sich Ionenkanäle mit Mechanosensitivität der DEG/EnaC-Familie aber auch der TRAAK und TREK-1 Kaliumkanalfamilie. Peptiderge C-Fasern hingegen sind mit TRPV1, DEG/ENaC un TRAAK, sowie TRPA1 und TREK-1 Rezeptoren ausgestattet und er- möglichen so die selektive Differenzierung eingehender Stimuli. Neben den polymodalen Nervenendigungen erweitern spezifi- sche, Wärme- und Berührungsfasern das Spektrum der nozizeptiven Afferenzen.

Die Komplexität der Nozizeption wird durch augmentierende Faktoren der so genannten „inflammatorischen Suppe“ ergänzt, wie Bradykinin, Substanz-P, Calcitonin-Gene-Related-Peptide (CGRP), Nerve-Growth-Faktoren (NGF und BDNF), Zytokine, Chemoki- ne, Reactive-Oxygen-Species (ROS), Neurotransmitter wie Serotonin und Glutamat, ATP,  Norepinephrin, GABA und schließlich Prostaglandine, Leukotriene, ja sogar Cannabinoide und Opioide.  Als schmerzhemmende Mechanismen seien neben den bereits erwähnten inhibierenden Interneuronen, die Freisetzung endogener Faktoren wie Dynorphin, Nociceptin, GABA, Adenosin sowie Eicosanoiden wie 5- und 12- Hydroxypentaenoesäuren und Endocannabinoiden genannt.


Medikamentöse Schmerztherapie

Die Kenntnis der molekularen Struktur von Rezeptoren und deren endogene Liganden sowie die Transmissionswege über die dor- salen Anteile des Myelons und nicht zuletzt die Weiterverarbeitung nozizeptiver Afferenzen im Zentralnervensystem, haben zwei- fellos das Verständnis physiologischer aber auch pathophysiolgischer Abläufe der Schmerzentstehung und -chronifizierung ver- tieft und auch dazu geführt, dass neben klassischen Analgetika wie Nichtsteroidalen Antiinflammatoria, Opioiden und so genann- ten Non-Opioiden nunmehr auch Antikonvulsiva wie Calciumkanalblocker und Natriumkanalblocker oder Kainatantagonisten aber auch Antidepressiva und Cannabinoide sowie topische Lokalanästhetika und Chemoirritantien (Capsaicin) unter Nutzung synerger Wirkweisen das medikamentöse Armamentarium der Schmerztherapie erweitert haben. Nicht zuletzt seien hier auch die Methoden der Elektrostimulation genannt, die transkutan, epidural oder im Bereich des Großhirns eingesetzt werden kann. Dennoch muss zugegeben werden, dass hinsichtlich vollkommener therapeutischer Abdeckung von Schmerzuständen noch viel „Luft nach oben“ besteht. Die Analyse von molekularen „Struktur-Wirkungsbeziehungen“ bietet die Möglichkeit zum Design synthetischer Liganden die einerseits mit den Rezeptoren und andererseits auch mit Transmittern interagieren oder aber durch Interaktion mit Enzymen ei- nerseits in den Ablauf der inflammatorischen Kaskade eingreifen (COX-, LOX- und COX/LOX- Inhibitoren) oder andererseits den Abbau endogener Cannabinoide verhindern (Fettsäure-Amidhydrolase-Inhibitoren), um nur einigen Bespiele anzuführen. In vielen Fällen erwiesen sich bzw. erweisen sich die solcherart entwickelten Moleküle aber aufgrund von oft schweren Nebenwirkungen für die klinische Anwendung als nicht geeignet. So wurde die Entwicklung von NGF-Antagonisten durch Nebenwirkungen wie Kno- chennekrosen von CGRP Antagonisten wegen Lebertoxizität und von TRPV1 Antagonisten durch das Auftreten von Hyperthermie und von Fettsäureamid-Hydrolase Inhibitoren durch schwere Zentralnervöse Nebenwirkungen zurückgeworfen. Dennoch werden die Bemühungen der Entwickler schlussendlich auch mit klinisch brauchbaren Medikamenten belohnt wie z. B. dem Antiemetikum Aprepitant aus der Reihe der Neurokininantagonisten oder der „Migräneimpfung“ mit dem CGRP-Antagonisten Erenumab. Als Er- schwernis in der Anwendung mancher Substanzen, die bei gewissen Schmerzentitäten eingesetzt werden könnten wie z. B. die Glutamatantagonisten Memantin oder Riluzol ist die Tatsache, dass deren Wirkung wohl in kleinen Studien nachgewiesen, eine kli- nische Anwendung mangels Zulassung jedoch nur „off label“ möglich ist. Dennoch darf behauptet werden, dass die Forschung immer rascher voranschreitet und hinsichtlich Bereicherung der medikamentösen Schmerztherapie durch neue Substanzen durch- aus Optimismus angebracht ist.