Praxis | Kassenstellen 

Wie viele Kassenärzte

braucht das Land?

fotoS: Felicitas Matern, adobe stock/ christopher-oliver, BKO OMR, ZVG, ÖÄK/Noll

Die Diskussionen um steigende Wahlarztzahlen und unbesetzte Kassenstellen reißt nicht ab. Hat Öster- reich genügend Kassenstellen? Braucht es weniger oder sogar mehr?

Derzeit scheint es, als müssten sich Patienten zwischen höheren Kosten und längeren Wartezeiten entscheiden, je nachdem, ob sie die Dienstleistungen von Wahlärzten oder Kassenärzten in Anspruch nehmen. Letztlich sind sie es, die das Wahlarztsystem finanzieren. Gleichzeitig wird der Druck auf verbleibende Kas- senärzte größer, je mehr Kollegen sich für das Wahlarztmodell entscheiden. Der Karren scheint festzustecken, dabei sind sich grundsätzlich alle einig: Kassenarzt zu sein muss wieder attrak- tiver werden. Es ist dringend notwendig, die offenen Stellen nachzubesetzen und neue Stellen zu schaffen.

Viele ländliche Regionen in Österreich können ein Lied davon singen: Es mangelt an Allgemeinmedizinern, an Augenärzten, Kinderärzten und überhaupt an niedergelassenen Ärzten. Junge Ärzte entscheiden sich für Wahlarztordinationen statt für einen Kassenvertrag und Gruppenpraxen scheitern nach wie vor an bürokratischen Hürden. Die Ursachen sind vielfältig und die Lö-

sungsoptionen daher komplex – vor allem aber bedürfen sie der Kooperationsbereit- schaft aller Player.


Spitzenreiter in Europa

Laut Österreichischer Ärztekammer (siehe Tabellen) fehlen für insgesamt rund 10.170 Kassenplanstellen in ganz Österreich 176 Allgemeinmediziner und 124 Fachärzte, also in Summe gut 300 Ärzte, wobei die Lücken freilich sehr unterschiedlich ausgeprägt sind. Während in Kärnten nur ein Allgemeinmediziner fehlt, sind es in Wien 57. Fach- ärzte fehlen in Salzburg vier, in Niederösterreich hingegen 32. Besonders prekär ist die Lage bei Augen-, Kinderärzten und Fachärzten für Frauenheilkunde, aber auch Der- matologen, Lungenfachärzte und Psychiater fehlen. Dabei weist Österreich im interna- tionalen Vergleich eine überdurchschnittlich hohe Ärztedichte auf. Sie liegt bei 535 Ärzten pro 100.000 Einwohner und damit an der Spitze Europas vor Norwegen und Spanien, während Ungarn mit 314 Ärzten das Schlusslicht bildet. Der OECD-Durch- schnitt liegt bei etwa 350 Ärzten pro 100.000 Einwohner. Laut Ärztekammer wird dabei jedoch nicht berücksichtigt, dass etwa ein Drittel der Ärzte in Österreich nur in Teilzeit beschäftigt ist. Glaubt man den Prognosen für die nächste Zukunft und den Trends un-

ter jungen Menschen in Ausbildung, dann wird dieser Anteil möglicherweise noch weiter steigen. Außerdem werden auch Turnusärzte in die Zahl der Ärzte eingerechnet, was nicht in allen Ländern gleich gehandhabt wird.


Steuerungsfragen

Ärztekammern, Österreichische Gesundheitskasse (ÖGK), medizinische Universitäten und Politik bemühen sich um eine Attraktivierung der Kas- senarztstellen. Die Frage, ob Österreich genügend Kassenärzte hat, lässt sich jedenfalls nicht mit ja oder nein beantworten. Dazu Univ.-Prof. Dr. Markus Müller, Rektor der Medizinischen Universität Wien: „Die Zahl niedergelassener Kassenärzte ist in Österreich, trotz steigenden Bedarfs, seit etwa 25 Jahren konstant. Im selben Zeitraum kam es zu einer Verdopplung von Wahlärzten und damit auch zur Zuzahlung von Patienten. Dieser

Befund ist Ergebnis einer aktiven Steue- rung, die jedenfalls nicht mit der Idee einer ‚Einklassenmedizin‘ in Einklang zu bringen ist.“ Er ist überzeugt, dass eine Balance zwischen Kassen-, Wahl- bzw. Privatärzten und Spitalsärzten nur hergestellt werden kann, wenn das Interesse an Kassenverträ- gen gestärkt wird. „Nicht zuletzt sollten ver- sorgungsrelevante Leistungen besser ab- gegolten werden“, so Müller.

ÖÄK-Vizepräsident und Bundeskurienob- mann der niedergelassenen Ärzte, Dr. Ed- gar Wutscher, selbst in einer Ordination in Zirl, sieht ebenfalls „derzeit einen deutli- chen Mangel an Kassenärzten und damit ein veritables Problem“. Freilich sei der Großteil der Stellen besetzt, aber die weni- gen unbesetzten seien für die Patienten schmerzhaft spürbar in Form von langen Wartezeiten und weniger Zeit, die der Arzt den Patienten widmen kann. „In manchen Regionen fehlen Kassenärzte, in anderen nicht. Es gibt also kein allgemeingültiges Urteil für ganz Österreich, aber der Mangel geht in jedem Fall zulasten der Patienten“, ist Wutscher überzeugt. Insgesamt 300 un- besetzte Planstellen seien eben durchaus spürbar.

Dr. Harald Mayer, Vizepräsident der ÖÄK und Bundeskurienobmann der angestellten Ärzte, sieht in der oft fehlenden Zusammen-

arbeit ein großes Problem: „In der Rund-um-die-Uhr-Versorgung, die wir unbedingt brauchen, besteht das Problem, dass wir Spitalsärzte seitens der niedergelassenen Ärzte oft zu wenig Unterstützung erhalten. Spitalsambulanzen sind nicht dazu da, Leistungen zu erbringen, die im nieder- gelassenen Bereich erfolgen sollen.“ Er erlaube sich kein Urteil darüber, ob es zu wenige Kassenärzte gibt, aber es sei jedenfalls auffällig, dass der Zustrom der Patienten in die Ambulanzen unverändert groß ist, und das liege zum Teil daran, dass sie extramural keine entsprechende Be- treuung finden. „Da an den Tagesrandzeiten oft nicht gearbeitet wird, schlagen Patienten bei uns im Spital auf, wo sie nichts verloren haben“, gibt sich Mayer ungehalten. Es brauche eine Patientensteuerung, damit Patienten nicht nach eigenem Gutdünken ins Gesundheitssystem einsteigen, sondern gelenkt werden, wünscht sich Mayer. Diese Steuerung sollte erfolgen, indem jeder Patient einen Hausarzt hat, der ihn auf Basis seines Fachwissens lenkt.


Immer mehr Wahlärzte

Der schwarze Peter wird oft den Wahlärzten zugeschoben, dabei entscheiden sich viele Ärzte aus guten Gründen für diese Lösung, wie

MR Dr. Momen Radi, Kurienobmann der niedergelassenen Ärzte und Vertreter der Wahl- und Privatärzte, schildert: „Die Medizin wird zunehmend

weiblich und viele junge Ärzte entscheiden sich bewusst für eine Teilzeitarbeit. Die wird ihnen jedoch im Rahmen des Kassensystems nicht leicht gemacht. Dazu kommt, dass sie mehr Zeit für einzelne Patienten haben möchten und eindeutig weniger Bürokratie.“ Darüber hinaus wolle die jüngere Generation oft nicht alleine, sondern im Ärzteteam ar- beiten und die Ausbildungszeit sollte mehr Gelegenheit für Praxis im niedergelassenen Bereich bieten, um die Ordinationsgründung nicht zur unüberwindlichen Hürde werden zu lassen.

„Patienten gehen in vielen Fällen lieber zum Wahlarzt statt zum Kassenarzt“, so Radi. „Also sollte das System hinterfragt werden. Wahlärzte haben mit dem Kassensystem per se kein Problem, sondern mit den Arbeitsbedingungen, die damit in Verbindung stehen. Würden die Hürden wie Bürokratie, Zeitmangel oder schwierige Zeiteinteilung gelockert werden, dann gäbe es auch mehr Kassenärzte“, ist Radi überzeugt. Ärzte wollen eine medizinische Betreuung bieten, wie sie vorgesehen ist, ist der der Wahlärzte-Vertreter sicher. Das sei jedoch im Rahmen des Kassensystems kaum mehr möglich. Radi wünscht sich eine Entlastung der Ärzteschaft und eine mögliche Teilung der Kassenstel- len ohne finanzielle Begrenzung. „Es gibt sicher kein Allheilmittel – man wird an vielen Schrauben drehen müssen. Aber es braucht jedenfalls ein grundsätzliches Umdenken und einen Systemwechsel, auch in der Ausbildung“, so Radi. Er kritisiert darüber hinaus, dass Wahlärzte aus dem System ausgeschlossen werden und meist nicht an ELGA teil-

nehmen dürfen. „Statt aufeinander zuzugehen, werden Wahlärzte entkoppelt. Damit fehlen weitere Anreize, um sich wieder ins Kassensystem ein- zugliedern.“ Seine Hoffnungen legt er unter anderem in eine Befragung von Wahlärzten, die derzeit ausgewertet wird. Mit der Evaluierung der Ant- worten könnte es mehr Verständnis für die Ängste und Sorgen der Wahlärzte geben.


Attraktivierung notwendig

Den Schlüssel zur Lösung des Problems sieht Wutscher ebenso in einer Attraktivierung der Kassenmedizin, die endlich in Angriff genommen werden muss. „Das sage ich ge- betsmühlenartig! Stellen müssen mithilfe von Jobsharing oder in Gemeinschaftspraxen geschaffen werden, bürokratische und gesetzliche Hürden gehören entzerrt.“ Die Medi- zin werde zunehmend weiblich und nachdem Frauen nach wie vor den Hauptteil der Kinderversorgung übernehmen, müssen Kassenstellen attraktiver gestaltet werden, in- dem Hürden verkleinert und großzügigere Lösungen umgesetzt werden. „Die bestehen- den Arbeitsbedingungen sind angesichts der demografischen Entwicklungen nicht mehr zeitgemäß“, so Wutscher. Bei Radi, der sich ebenfalls eine Entschärfung bestehender Hürden wünscht, rennt er damit offene Türen ein. Es brauche mehr Rücksicht auf geän- derte Erwartungen – etwa für Teilzeitbeschäftigte –, eine Entbürokratisierung und ein Schmackhaftmachen des niedergelassenen Bereichs durch längere Ausbildung ebendort.

Die Wiederherstellung der Balance zwischen Kassen-, Wahl- bzw. Privatärzten und Spi- talsärzten bedarf jedenfalls laut Wutscher einiger Korrekturen im System, vor allem aber

in der Kassenmedizin. Funktioniere die Kassenmedizin, würden auch Spitalsärzte entlas- tet. Das System steht und fällt also mit attraktiven Kassenstellen. „Der Ball ist hier bei uns allen: bei der Politik, der Sozialversicherung und der Standespolitik. Ich plädiere ein- dringlich, dass sich alle involvierten Player an einen Tisch setzen, sich austauschen und Lösungen suchen. Sich etwas über die Medien auszurichten, haben wir doch nicht not- wendig“, so Wutscher.

Spitalsärzte-Vertreter Mayer sieht einen klaren Systemfehler. „Wir kümmern uns nicht um die immer geringer werdende Ressource Arzt, um ihren effizienten Einsatz. Angestellte und niedergelassene Ärzte sollten besser vernetzt werden. Wenn Spitalsärzte Funktio- nen aus dem niedergelassenen Bereich übernehmen sollen, muss damit ein Honorar- fluss verbunden sein.“ Mayer bedauert, dass in der Diskussion um Engpässe die Exper- tise von Ärzten nicht wirklich gefragt ist. Die Politik müsse sich um die Patientenvertei- lung kümmern, aber das bedeutet nicht automatisch, dass Kassenverträge für über 70- Jährige geöffnet werden müssen. Kassenmedizin muss auch für Junge attraktiver werden.


Knackpunkt Allgemeinmedizin

176 fehlende Allgemeinmediziner ist für ein kleines Land wie Österreich durchaus eine gewaltige Lücke. „Das Berufsbild der Allgemeinmedizin wird sehr stark durch die reale Lebenssituation im niedergelassenen Bereich geprägt“, ist Müller überzeugt. „Jede Stär- kung des versorgungsrelevanten, niedergelassenen Bereichs ist daher auch ein Beitrag zur Stärkung der Allgemeinmedizin. An MedUnis ist das Fach organisatorisch im Rah- men von Professuren und Instituten und inhaltlich im Curriculum bzw. in Erweiterungsstu- dien verankert. Die Herausforderungen der Allgemeinmedizin sind jedoch in erster Linie ein postgraduelles Thema.“ Auch die Bewerbungsmodalitäten für Kassenstellen könnten angepasst werden, sofern sie zu einer Stärkung versorgungsrelevanter Leistungen bei-

tragen können, sagt Müller.

In den Facharzt für Allgemeinmedizin setzt auch Wutscher große Hoffnungen. Er plädiert für eine bis zu zwei Jahre dauernde Lehrpraxis, die zweigeteilt werden könnte – mit Spi- talsfächern dazwischen. Er selbst betreibt eine Lehrpraxis und hat damit sehr gute Er- fahrungen gemacht. Dass es einen Mangel an Lehrpraxen gibt, dürfte diese Wunschvor- stellung wohl leider nicht schneller Realität werden lassen. Die Bewerbungsmodalitäten für Kassenstellen sieht Wutscher hingegen nicht als Problem. „Wenn in der Kammer je- mand Interesse zeigt, wird er sofort perfekt betreut – da gibt es keine Hürden“, versi- chert der Allgemeinmediziner.

„Allgemeinmedizin ist nicht unattraktiv!“, ist auch Mayer überzeugt. „Für Patienten müs- sen Strukturen geschaffen werden, die ihn durch das System lenken – und dafür ist die Allgemeinmedizin da. Ich vergleiche das gerne mit einem Auto: Damit ich die Garantie nicht verliere, muss ich regelmäßig eine Vertragswerkstatt aufsuchen. Ähnliches gilt für die Gesundheit. Hausärzte, die ihre Patienten gut kennen, wissen, wie sie ticken, kennen ihre Leidensfähigkeit und Besonderheiten und wissen, wann sie wohin geschickt werden sollen.“

Angesichts der sehr emotionalen Diskussion macht sich der Eindruck breit, dass sich

die verschiedenen Player gar nicht groß widersprechen. Dass Österreich durchdachte Modifizierungen des Kassensystems und eine Attraktivie- rung der Allgemeinmedizin bräuchte, scheint Konsens zu sein. Der Idee, alle an einen Tisch zu setzen, wäre daher durchaus etwas abzugewin- nen. Was bleibt, ist die Frage der Finanzierung – und das dürfte wohl bei allem Reformwillen der alles entscheidende Pferdefuß sein.


bw