MEDIZIN | Seltene Erkrankungen
Dr. Artem Kalinichenko und Assoc.-Prof. Dr. Kaan Boztug forschen
an der Entstehung der familiären hämophagozytische
Lymphohistiozytose (HLH)
Foto: St. Anna Kinderkrebsforschung
Immunzellen
außer Kontrolle
Im Rahmen einer internationalen Zusam- menarbeit fanden Wissenschaftler der St. Anna Kinderkrebsforschung neue Grundla- gen zur Entstehung der familiären hämo- phagozytischen Lymphohistiozytose (HLH).
Wissenschaftler der St. Anna Kinderkrebsforschung entdeckten mit Kollegen aus Finnland und Schweden eine neue Form einer Erbkrankheit: Ein genetisch bedingter Mangel des Proteins RhoG hebt die normale zytotoxische Funktion bestimmter Immunzellen auf. Dadurch wird eine lebensbe- drohliche Krankheit, die hämophagozytische Lymphohistiozytose (HLH), ausgelöst. Diese neuen Erkenntnisse können bei der genetischen Diagno- se für Patienten mit klinischem Verdacht auf HLH helfen.
Die familiäre oder genetisch bedingte HLH, die meist in der frühen Kindheit auftritt, ist eine der dramatischsten hämatologischen Erkrankungen. Sie ist dadurch gekennzeichnet, dass bestimmte Immunzellen, nämlich T-Lymphozyten und natürliche Killerzellen (NK), nicht mehr fähig sind, eine zum Beispiel von Viren infizierte Zielzelle abzutöten. In der Folge kann der Körper Zytokine ausschütten, die eine massive Immunaktivierung und Hyper- inflammation im gesamten Körper hervorrufen. „Unbehandelt kann die mit HLH verbundene Hyperinflammation in kurzer Zeit tödlich sein“, sagt As- soc.-Prof. Dr. Kaan Boztug, wissenschaftlicher Direktor der St. Anna Kinderkrebsforschung und Seniorautor der Studie.
Bis vor Kurzem waren vier Subtypen der familiären HLH bekannt. Sie werden durch Mutationen in Genen verursacht, die an der Regulierung der Immunabwehr beteiligt sind. „Jetzt haben wir einen neuen Typ dieser Krankheit entdeckt, der durch vererbte Mutationen in dem Gen verursacht wird, das für das Protein RhoG kodiert“, erklärt der Erstautor der Studie, Dr. Artem Kalinichenko, der als Senior Postdoc an der St. Anna Kinder- krebsforschung und dem Ludwig Boltzmann Institut für seltene und undiagnostizierte Erkrankungen (LBI-RUD) forscht. Das Forschungsteam zeigt, wie ein Mangel an RhoG spezifisch die zytotoxische Funktion von T-Lymphozyten und NK-Zellen beeinträchtigt. Das führt zu deren unkontrollierter Aktivierung und verursacht letztlich HLH.
Insbesondere beeinträchtigt der RhoG-Mangel den Prozess der Exozytose in be- stimmten Immunzellen und setzt deren Tötungsfähigkeit außer Kraft. So nutzen Im- munzellen wie T- und NK-Zellen die Exozytose zur Freisetzung zytotoxischer Molekü- le, um infizierte oder Tumorzellen anzugreifen und abzutöten. Wenn der RhoG-Man- gel diese Funktion in Immunzellen lahmlegt, können sie ihre Zielzellen nicht wie vor- gesehen abtöten. „Welche Rolle dies für eine Neigung zur Entwicklung von Krebs hat, werden wir noch detaillierter untersuchen“, sagt Kalinichenko.
Bisher unbekannte Rolle von RhoG
In ihrer Studie untersuchten die Wissenschaftler einen Säugling, der im Alter von vier Monaten eine schwere HLH entwickelte. Während die Krankheit mit einer gestörten Zytotoxizität von T- und NK-Zellen einherging, wurden keine Mutationen in bekannten HLH-assoziierten Genen gefunden. Weitere genetische Analysen ergaben aber ge- sundheitsschädliche Mutationen in dem Gen, das für RhoG kodiert. Durch experi- mentelles Ausschalten von RhoG im Labor bestätigten die Wissenschaftler die bis-
her unbekannte Rolle von RhoG bei der zytotoxischen Funktion menschlicher Lymphozyten. Trotz einer drastischen und spezifischen Auswirkung auf die zytotoxische Funktion beeinträchtigt der RhoG-Mangel keine anderen Funktionen der Immunzellen, die für die Krankheitsentwicklung eine Rolle spielen. „In unserer Studie entdeckten wir eine zentrale Rolle der RhoG-Interaktion mit einem Exozytose-Protein namens Munc13-4, das für die Verankerung der zytotoxischen Granula an der Plasmamembran essenziell ist“, erklärt Boztug. Dieses Andocken ist ein kritischer Schritt in der Exozytose. Es ist notwendig für die weitere Fusion der Vesikel mit der Plasmamembran und die Freisetzung der zytotoxischen Granula. „Unsere Studie identifiziert RhoG als einen neuen essenziellen Regulator der humanen Lymphozyten-Zytotoxizität und liefert den molekularen Pathomecha- nismus hinter dieser bisher unbekannten genetisch bedingten Form der hämophagozytären Lymphohistiozytose“, resümiert Boztug.
Schnelleres Screening
Als kurzfristige Konsequenz kann der entdeckte RhoG-Mangel HLH-Patienten eine raschere genetische Diagnose ermöglichen. Das Verständnis der molekularen Pathomechanismen von HLH kann langfristig die Behandlung der Krankheit und die Prognose verbessern. „Die Entdeckung des RhoG-Mangels hat neue Einblicke in die molekularen Funktionen dieses Proteins eröffnet und hochrelevante Fragen aufgeworfen. Wir haben her- ausgefunden, dass RhoG sowohl das ‚Zell-Skelett‘ als auch die Exozytose-Maschinerie reguliert. Jetzt sind wir sehr daran interessiert zu erfahren, wie RhoG deren Aktivität in Raum und Zeit koordiniert und was das für Konsequenzen hat“, sagt Kalinichenko. Diese wissenschaftliche Arbeit wur- de durch die Zusammenarbeit der St. Anna Kinderkrebsforschung mit dem LBI-RUD, dem CeMM Forschungszentrum für Molekulare Medizin der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, der Medizinischen Universität Wien und internationalen Partnern ermöglicht.
rh