FORTBILDUNG & KLINIK I Frauen
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Cécile Vogt – Karriere mit Weltruhm
„Cécile Vogt. Pionierin der Hirnforschung“ von Dr. Birgit Kofler-Bettschart ist eine Biografie der mehrfach für den Nobelpreis nominierten Hirn- Grundlagen-Forscherin.
Die geniale Wissenschaftlerin und Wegbereiterin für Frauenkarrieren war eine unkonventionelle Kämpferin, loyale Partnerin und Mutter.
Ohne Cécile Vogt wäre die Hirnforschung heute nicht dort, wo sie ist. Von den Nationalsozialisten vertrieben aus dem von ihr gemeinsam mit ihrem Mann Oskar aufgebauten Kaiser-Wilhelm-Institut für Hirnforschung in Berlin, dem heutigen Max-Planck-Institut, gilt sie als Pionierin und langjährige Nobelpreis-Kandidatin. Cécile und Oskar Vogts Hirnschnittsammlung, eine der größten der Welt, befindet sich heute an der Universität Düsseldorf. Dennoch ist Cécile Vogt nach ihrem Tod in Vergessenheit geraten. Ein neues Buch zeigt die vielfältigen Facetten einer ungewöhnlichen Frau.
Ein kongeniales Ehepaar
Cécile Mugnier wird 1875 in Frankreich geboren und wächst mit zwei Brüdern, ihrer Mutter, aber großteils vaterlos auf. Sie absolviert das Baccalau- réat, das ihr den Zugang zur Universität öffnet, und studiert anschließend in Paris Medizin, dem damaligen Zentrum für Neurowissenschaften in Eu- ropa. 1898 bekommt sie ein uneheliches Kind, das erstaunlicherweise der Karriere keinen Abbruch tut. Im selben Jahr begegnet sie Oskar Vogt, einem deutschen Neurologen und Hypnosespezialisten sowie Gastforscher in Paris, ein Jahr später heiraten die beiden und ziehen nach Berlin. 1900 promoviert Cécile, zu einer Zeit, als gerade einmal fünf Prozent der Absolventen Frauen waren. Cécile bekommt noch zwei Töchter und setzt dennoch ihre Karriere fort.
Gemeinsam mit Oskar Vogt arbeitet Cécile am Neurobiologischen Laboratorium in Berlin, aus dem das Kaiser-Wilhelm-Institut für Hirnforschung, das heutige Max-Planck-Institut, hervorgeht. Ab 1924 gibt sie gemeinsam mit Oskar Vogt die Zeitschrift für Psychologie und Neurologie, ab 1954 Journal für Hirnforschung, heraus. Von den Nazis aufgrund ihrer unerschütterlichen Überzeugungen vertrieben, führen die Vogts ihre Forschungen in privatem Rahmen in Neustadt im Schwarzwald in ihrem Institut für Hirnforschung und allgemeine Biologie fort, das vor allem durch finanzielle Unterstützung der Familie Krupp existieren kann. Die Hirnforscherin beeindruckt mit ihrem Leben zwischen Arbeit, Politik und Familie, mit ihrer Ehe auf Augenhöhe und ihren vielen Interessen und Errungenschaften. Cécile Vogt wurde 13-mal für den Nobelpreis nominiert, erhielt ihn jedoch nie. Die Buchautorin Birgit Kofler-Bettschart berichtet im Interview von ihrer Begeisterung für diese außergewöhnliche, faszinierende Frau.
?Wird Cécile Vogts Arbeit unterschätzt? Inwiefern?
Ja, das ist ein Grund warum ich sie mit einer Biografie würdige. Mein Eindruck ist, dass die zeitgenössischen Wissenschaftler, vor allem in den Neurowissenschaften, aber auch Medien etc. sich der wichtigen Rolle von Cecile Vogt im Berliner Hirnforschungsinstitut sehr bewusst waren, auch wenn manchmal schon zeitlebens Oskar allein die Lorbeeren einheimste. Mit ihrem Tod ist dieses Bild zunehmend verblasst und sie kommt auch in biografischen Publikationen über das Ehepaar Vogt oft nur als Randfigur vor. Ihr spezifischer Anteil geht in der Beschreibung „gemeinsamer Ar- beit“ auf.
?Wie unterschieden sich die Chancen für eine Wissenschaftlerin damals von heute?
Heute müssen sich Wissenschaftlerinnen nicht mehr sagen lassen, dass Frauen auf Kongres- sen unerwünscht sind und sie daher ihre Forschungsergebnisse nicht präsentieren können. Aber ganz im Ernst: Natürlich ist in mehr als einem Jahrhundert viel passiert, was die Rolle und die Chancen von Frauen in der Wissenschaft betrifft, und die Ausgangslage ist ungleich besser. Wenn wir aber zum Beispiel die Neurologie ansehen, da sehen wir ein Phänomen, das auch aus anderen Bereichen vertraut ist: Unten in der Hierarchie gibt es noch viele Frauen und je weiter es in Richtung Pyramidenspitze geht, desto seltener werden sie. Die Deutsche Gesellschaft für Neurologie hatte 2019 – also 120 Jahre nach Céciles Start in Berlin – mit Christine Klein erstmals
eine Präsidentin, die Österreichische Gesellschaft für Neurologie war mit Elisabeth Fertl ein paar Jahre früher dran. Das hat eine Vielfalt von Ursa- chen: Von der ungleichen Verteilung der Kinderbetreuung, die für Frauen karrierehemmend sein kann, über starke Männer-Netzwerke und Boys’ Clubs bis hin zur Tatsache, dass Frauen sich mit viel weniger Selbstverständlichkeit als Männer für bestimmte Positionen ins Spiel bringen, um nur einige Faktoren zu nennen. Aber es gibt immerhin eine Sensibilität dafür, von der Europäischen Fachgesellschaft abwärts gibt es Kommissionen und Arbeitsgruppen, die sich mit Frauenförderung beschäftigen.
?Wäre die wissenschaftliche Karriere von Cécile Vogt ohne ihren Mann möglich gewesen?
Zu Beginn ihrer Ehe wäre es sicher nicht denkbar gewesen, dass sie in einer universitären Forschungseinrichtung arbeitet und Karriere machen kann. Da war dieses private Arrangement, dass sie zwar unbezahlt, aber immerhin in aller wissenschaftlichen Freiheit im von Oskar gegründeten und geleiteten Institut federführend tätig war, wesentlich für Céciles Arbeit. Auch, dass Oskar Herausgeber eines wissenschaftlichen Journals war, hat ihr eine Publikationsmöglichkeit eröffnet, die sonst Frauen wohl kaum hatten. Eine universitäre Karriere wäre da wohl kaum vorstellbar gewesen. Später, im Rahmen der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, waren die Voraussetzungen etwas besser: Diese außeruniversitäre Forschungsgesellschaft hat Frauen bessere Bedingungen geboten, es gab durchaus auch Abteilungsleiterinnen, wenn auch keine Institutsdirektorinnen.
?Der Matilda-Effekt ist die systematische Verdrängung und Leugnung des Beitrags von Wis- senschaftlerinnen in der Forschung, deren Arbeit häufig ihren männlichen Kollegen zugerech- net wird. War Cécile Vogt Opfer des Matilda-Effekts?
Ja, es gibt auch bei Cécile einige Beispiel dafür, dass sie Opfer des Matilda-Effekts wurde. Zum Bei- spiel wurde Oskar eine Ehrung der Gesellschaft der Deutschen Nervenärzte ausdrücklich mit Ver- weis auf seine Verdienste um die Erforschung des striären Systems verliehen, dabei war gerade die Striatum-Forschung klar eine Domäne Céciles. Wobei man aber auch sehen muss, dass Oskar Vogt selbst die Sichtbarkeit der Leistungen seiner Frau sehr gefördert hat und sich nicht ihre Ergebnisse angeeignet hat.
?Lassen sich ihre Forschungsergebnisse von jenen ihres Mannes trennen?
Bei einem forschenden Paar wird das immer schwierig sein: Da gibt es wohl kaum eine Grenze zwi- schen Arbeit und Privatleben, man tauscht sich auch außerhalb des Labors über Ideen und Konzep- te aus und ich bezweifle, ob sich dann am Ende immer so klar trennen lässt, wer eine Idee ursprüng-
lich hatte. Aber trotzdem gibt es schon einige Themen, die sich klar Cécile zuordnen lassen. Die Arbeiten zum striären System waren vor allem ihr spezifischer Bereich, auch jene zum Aufbau des Thalamus; und das Eponym der „Vogtschen Erkrankung“ – auch Cécile-Vogt-Syndrom – geht auch auf ihre Arbeit zurück, auch wenn das später anders dargestellt wurde.
?War Cécile Vogt mit drei Töchtern als Wissenschaftlerin ihrer Zeit voraus?
Absolut, das war ungewöhnlich. Marie Curie ist eines der wenigen anderen Beispiele, die wir kennen. Natürlich hatten sie die materiellen Möglich- keiten, sich Unterstützung durch Gouvernanten, Haushälterinnen etc. zu organisieren, aber trotzdem war es ein für ihre Zeit höchst unübliches Rollenverständnis, das Cécile vorlebte. Die Vogts führten eine sehr moderne, gleichberechtigte Ehe, schon damit mussten sie für viele eine Provo- kation sein. Und sie kümmerten sich auch darum, dass Mitarbeiterinnen von Hausarbeiten entlastet wurden, so wurden im Kaiser-Wilhelm-Institut für Hirnforschung in Berlin-Buch die Einkäufe für alle organisiert und der Reinigungsdienst des Instituts wurde auch in die Dienstwohnungen ge- schickt, um die Frauen zu entlasten.
?Was waren ihre wichtigsten wissenschaftlichen Erkenntnisse?
In der eher psychotherapeutisch orientierten Arbeit ist das wahrscheinlich das Konzept der „Dysamnesie“, also des „Nicht-Vergessen-Könnens“, mit dem sie auch einen gewissen Gegenpol zu Freuds Verdrängungslehre geschaffen hat. Eines der großen Forschungsthemen Cecile Vogts hat sich in einem Eponym niedergeschlagen und ist nach wie vor in der ICD-11 vertreten: Die dyskinetische Zerebralparese, auch Cecile-Vogt-Syn- drom, Vogt-Krankheit, Athetotische Zerebralparese oder Athetose double, eine seltene neurologische Bewegungsstörung, die auf eine Schädi- gung der Basalganglien zurückgeht. Cecile hat die Ursache dieser Störung in dem Teil der Basalganglien, den sie als Striatum oder striäres Sys- tem beschreibt, gefunden. Auch über dieses Krankheitsbild hinaus setzte sie bestimmte Veränderungen in der Region des Striatum mit bestimm- ten Bewegungsstörungen in Beziehung, auf ihren Beschreibungen bauen viele spätere Entdeckungen zum Striatum auf. Auch Céciles Publikatio- nen zum Thalamus gehören wohl zu ihren wichtigsten Arbeiten. Zu den besonderen Verdiensten von Cécile und Oskar gemeinsam gehört, dass sie bereits vor 120 Jahren Hirnforschung offen, breit und vor allem interdisziplinär gedacht und betrieben haben und damit einen sehr modernen Zugang etabliert haben, der heute an Instituten in aller Welt im Sinne der aktuellen Neurowissenschaften selbstverständlich ist. Es ging ihnen unter anderem darum, den Aufbau des Gehirns, genau zu beschreiben, in präzise, voneinander abgegrenzte Areale einzuteilen und diesen Arealen be- stimmte Funktionen zuzuordnen.
?Die Vogts werden manchmal auch für ihre Ansichten heftig kritisiert. Wurden sie missinterpretiert?
Cécile war eine sehr explizite Gegnerin von Euthanasie-Ideologen wie Hoche und Binding. Und dass die Vogts in klarer Gegnerschaft zur NS-Ideologie standen, ist vielfach belegt, schließlich wurden sie auch aus dem Berliner Institut vertrieben. Ich denke, es gibt Missinterpretationen mancher Aussagen, weil einfach der Kontext nicht ausreichend bewusst ist. Und es gibt meines Erachtens auch ganz gezielte Missinterpretatio- nen, die wir durchaus auch von anderen Medizinern kennen. Nämlich in dem Sinn, eine angebliche „Konti- nuität“ zwischen linken eugenisch inspirierten Konzepten und den Nazi-Gräueln herzustellen. Das haben NS-Täter aus der Medizin zum Teil bewusst als Reinwaschungsstrategie betrieben. Ich glaube, es sollte aber auch davon ablenken, welche tatsächliche Kontinuität es an den medizinischen Universitäten und For- schungseinrichtungen nach 1945 gab und wie viele Täter weiter tätig sein konnten.
bw
Die Autorin
Dr. Birgit Kofler-Bettschart, ge- boren 1965 in Tirol, lebt und ar- beitet als Autorin in Wien und Tri- est. Nach dem Studium der Rechtswissenschaften arbeitete sie bei der UNESCO in Paris und im diplomatischen Dienst. An- schließend war sie Kabinettchefin im österreichischen Gesund- heitsministerium, bevor sie sich als Journalistin, Beraterin und Zeitschriftenverlegerin selb- ständig machte.