MEDIZIN | Urologie 

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Therapien gegen

neurogene Harninkontinenz

Jeder zweite oder dritte Mensch, der von bestimm- ten neurologischen Erkrankungen betroffen ist, kämpft auch mit einer neurogenen Störung von Harnblase und Blasenschließmuskel. Das führt häu- fig zu neurogener Inkontinenz.

AUTOR:

Univ.- Prof. Dr. Helmut Madersbacher

Mitbegründer und langjähriger Leiter der

Neuro-Urologie am Landeskrankenhaus –

Medizin-Universität Innsbruck

Verhaltenstherapie, Medikamente und Botox helfen in der Behandlung von überaktiver Blase. Bei der neurogenen Schließmuskelschwäche sind die derzeitigen Behandlungsmöglichkeiten eingeschränkt. Große Hoffnung wird ins Tissue Engineering gesetzt, um den geschwächten Schließ- muskel zu kräftigen. Unsere Vision ist, dass wir durch neue innovative Verfahren zukünftig nicht nur die Symptome behandeln, sondern auch gute Schritte in Richtung Regeneration machen können und damit bei bestimmten neurologischen Erkrankungen die Blasenfunktion zumindest teilweise wiederherstellen zu können.


Innovative Verfahren zur Regeneration

Die neurogene Harninkontinenz – so wird die durch neurologische Erkrankungen verursachte Inkontinenz genannt – ist häufig dadurch verursacht, dass die neurologische Erkrankung die Harnblasensteuerung beeinträchtigt. Das passiert entweder durch Krankheitsprozesse im Gehirn oder durch Läsion jener Nerven, die vom Gehirn über das Rückenmark in die Peripherie zur Blase laufen. Abhängig von der Art der neurologischen Er- krankung, vom Ausmaß und dem Ort der Läsion können so Harnblase und Blasenschließmuskel entweder überaktiv oder unteraktiv werden und damit über verschiedene Wege zur Inkontinenz führen.

Ist die Blasenwand bei einer überaktiven Blase im späteren Stadium starr und unelastisch geworden, kann das zu einem gefährlich hohen Blasendruck führen. In dieser Situation kann das Tissue Engineering eingesetzt werden, künstlich hergestellte biologische Gewebe durch die gezielte Kultivierung von Zellen. Mit dieser Technologie können wir heute einen Teil der starren Blasenwand durch ein Gewebsimplantat ersetzen und so den gefährlichen Blasen- druck senken. Bisher wurden dafür isolierte Dünndarmsegmente, sogenannte Dünndarm- Patches, verwendet. Sie haben eine Reihe von Nachteilen, insbesondere den, dass der iso- lierte Dünndarm weiterhin Schleim produziert. Das ist beim Tissue Engineering nicht der Fall. Die ersten klinischen Erfahrungen im Tissue Engineering sind ermutigend. Bei der neuroge- nen Schließmuskelschwäche, gegen die wir kein Medikament haben, gibt es mit dem im- plantierbaren, aus Silikon gefertigten, künstlichen Schließmuskel eine gute operative Alterna- tive. Da das Implantat jedoch alle zehn Jahre gewechselt werden muss, wird auch hier an Verbesserungen geforscht – und zwar mithilfe von Stammzellen. Theoretisch könnten

Stammzellen auch einen schwachen Blasenmuskel verbessern.


Inkontinenz als Indikator für neurologische Erkrankung

Bei Alzheimer-, Demenz- und Parkinsonpatienten zeigt sich die neurogene Inkontinenz häufig durch eine überaktive Blase. Führt man sich vor Au- gen, dass in Österreich an die 80.000 Menschen von der Alzheimerkrankheit, rund 100.000 Personen von anderen Demenzformen und an die 20.000 Menschen von Morbus Parkinson betroffen sind, sieht man, dass die Anzahl der potenziell Betroffenen sehr groß ist. Bei der überaktiven Blase werden mit gezielter Verhaltenstherapie durch Toilettentraining und Blasenprotokoll sowie Medikamenten, die in die Muskelkontraktion der Blase eingreifen können, bereits seit Längerem gute Behandlungserfolge erzielt. Langfristig helfen hier auch Botox-Injektionen, die in die Blasen- wand gespritzt werden und so den Blasenmuskel für sechs bis zwölf Monate ruhigstellen.

Bei einigen neurologischen Erkrankungen ist die Blasenstörung auch ein wichtiges Symptom, das zur Diagnose der Grunderkrankung führen kann. 5 % der Menschen, die an Multipler Sklerose erkranken, haben vorauftretend Blasenprobleme. Dieses Symptom führt dann zur weiteren medizini- schen Abklärung und schließlich zur Ursache. Es gibt auch Patienten, die auf Parkinson erstdiagnostiziert wurden, bei denen aber gleichzeitig Bla- sensymptome auftreten. Das ist bei einem klassischen Parkinson im Allgemeinen nicht der Fall und daher ein wichtiger Hinweis auf einen „atypi- schen“ Parkinson. Daher ist das frühe Aufsuchen eines Spezialisten sowie eine gute Zusammenarbeit von Neurologen und Urologen essenziell.