MEDIZIN | Mutter-Kind-Pass
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„Ist die Gesundheit von Frauen und Kindern
in diesem Land nichts mehr wert?“
Dem Erfolgsmodell „Mutter-Kind-Pass“ droht ein unwürdiges Ende. Seit seiner Einführung 1974 hat es sehr wertvolle Dienste geleistet und unzählige Leben von Müttern und Säuglingen gerettet.
Die jahrzehntelangen Aufrufe der Gynäkologen, ihre Arbeit wertzuschätzen und entsprechend zu honorieren, blieben bis dato ungehört. Dr. Doris Linsberger, Fachgruppenobfrau „Frauenheilkunde und Geburtshilfe“ der Ärztekammer für Niederösterreich spricht ihre Ängste um das Weiterbe- stehen der ärztlichen Vorsorge für Schwangere im Interview offen an.
?Sie waren als Fachgruppenobfrau der niederösterreichischen Gynäkologen eine der führenden Kräfte, die einen Ausstieg aus dem Mut- ter-Kind-Pass befürwortet haben. Was waren die Hintergründe?
Wie in den Medien schon berichtet wurde, hat es seit 28 Jahren keine Valorisierung der Mutter-Kind-Pass-Leistungen gegeben. Das Problem ist, dass der Mutter-Kind-Pass-Vertrag vom Gesamtvertrag abgekoppelt ist und die Leistungen aus dem Familienlastenausgleichsfonds bezahlt wer- den. Die Gynäkologen bekommen für jede der fünf Untersuchungen jeweils 18,02 Euro brutto. Dieser Betrag wurde seit der letzten Tariferhöhung zum 1. April 1994 so ausbezahlt und wurde auch mit der Umstellung auf Euro nicht erhöht. Wir Ärzte haben den Hippokratischen Eid abgelegt, aber niemals ein Armutsgelübde geleistet. Unser Aufwand und unsere Kosten sind in den letzten Jahren massiv gestiegen und selbstverständlich werden auch unsere Mitarbeiterinnen angepasst und wertschätzend entlohnt. Ein ebensolches Verhalten erwarten wir von den zuständigen Vertragspartnern.
?Wien, Niederösterreich und die Steiermark wollen fix aus dem Vertrag aussteigen. Wie ernst darf man diese Aussage nehmen?
Sehr ernst! Wir alle wünschen uns natürlich die beste Versorgung der Frauen und Kinder. Niemand in der Kollegenschaft hat Interesse an Konflikten mit den Vertragspartnern. Die einzelnen Mutter-Kind-Pass-Untersuchungen bedeuten einen massiven Arbeitsaufwand. In den letzten Jahren wurden zusätzliche Leistungen hineinreklamiert, ohne auch nur eine ein- zige davon entsprechend zu honorieren. Als Beispiel dafür steht die Untersuchung zur Aus- stellung eines ärztlichen Attestes zur Freistellung von Schwangeren. „Honorare“ bedeutet ja wörtlich übersetzt Ehre und Ehrerbietung. Diese Anerkennung ist in keiner Weise sichtbar. Deshalb gab es in der Kurie der Ärztekammer für Niederösterreich einen einstimmigen Be- schluss zur Kündigung des Mutter-Kind-Pass-Vertrages. Auch in Wien und der Steiermark gibt es einen Kurienbeschluss. In Oberösterreich, Burgenland und Kärnten wird diese Ent- scheidung in den nächsten Wochen folgen.
?Was bedeutet diese Vertragskündigung?
Es gibt Fristen zur Vertragskündigung, die nächste läuft mit 31. März 2023 ab. Daher wer- den wir mit diesem Datum die Vertragskündigung aussprechen, wenn bis Ende Februar 2023 keine akzeptablen Honorare angeboten werden. Dann tritt die Kündigung nach Ablauf des Quartals mit 1. Juli 2023 in Kraft. Die Gynäkologen erwarten sich mindestens 100 Euro für die Untersuchung vor allem im Hinblick darauf, dass die Hebammen für das vorge- schriebene Hebammengespräch 50 Euro erhalten. Die Pädiater und anderen betroffenen Fachgruppen erwarten sich ebenfalls adäquate Honoraranpassungen.
?Warum hört man dazu wenig aus den westlichen Bundesländern?
In den westlichen Bundesländern wird die Arbeit der Kollegenschaft mit zusätzlichen Kas- sen-Leistungspositionen im Rahmen der Mutter-Kind-Pass Untersuchungen honoriert.
?Welches Szenario droht bei einem Ausstieg?
Man bombt uns alle zurück in das medizinische Mittelalter! Die schon bestehende Proble-
matik der Mehrklassenmedizin wird sich noch weiter verschärfen. Nur wenige Frauen können es sich leisten, die Untersuchungen bei Wahl- und Privatärzten durchführen zu lassen. Eine Reduktion von Untersuchungen wird unweigerlich zu höherer Mortalität und Morbidität führen. Manchmal frage ich mich, ob die Gesundheit von Frauen, und Kindern den Verantwortlichen in diesem Land nicht mehr wert ist? Infolge eines Ausstieges wäre wohl auch eine Gesetzesänderung nötig, da ja der volle Bezug des Kinderbetreuungsgeldes an die Durchführung der Mutter-Kind-Pass-Un- tersuchungen gebunden ist. Wir wollen das Beste für die uns anvertrauten Frauen, Mütter und Kinder hoffen und natürlich auch, dass die Betroffe- nen Verständnis für unsere Situation zeigen. Wir sind gezwungen, jetzt zu handeln, bevor die Situation noch schlechter wird.
?Wie geht es jetzt weiter?
Man hört munkeln, dass angeblich schon Pakete ausverhandelt werden. Genaues weiß ich allerdings nicht. Sollten bis Ende Februar aber keine wertschätzenden Ergebnisse vorliegen, steigen wir – ich spreche jetzt für Niederösterreich – aus diesem Vertrag aus. Bekanntlich stirbt die Hoff- nung zuletzt und wir vertrauen weiter darauf, dass die Standpunkte über den Winter im wahrsten Sinne des Wortes nicht noch mehr einfrieren, son- dern im Sinne der Gesundheit von Müttern und Kinder und der Anerkennung unserer wertvollen Arbeit auftauen.
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Zur Person
Dr. Doris Linsberger ist Fachärztin für Frauenheil- kunde und Geburtshilfe, Wahlärztin in Krems, Kassen- praxisinhaberin in 1160 Wien, Fachgruppenvertreterin der Ärztekammer für NÖ, Mitglied im Ausschuss Fortbil- dungsakademie, Mitglied im Referat für Rechtsangele- genheiten, Anti-Diskriminierung und Genderfragen und Mitglied im Referat für Schulärzte, Vorsorge, Impfwesen und Sportmedizin