REHABILITATION | Individuelle Konzepte
Personalisierte Rehabilitation:
Interdisziplinär, systematisch, individuell
Die Rolle des Arztes wird auch im aktuellen Rehabilitationsplan 2016 erläutert, wonach „… Rehabilitation immer an einen endverantwortlichen Arzt gebunden …“ ist. Er ist Ausführender und Überwacher zugleich. Er analysiert, steuert und beobachtet den gesamten Rehabilitationsprozess.
Der grundsätzliche Ansatz und die Arbeitsweise in der medizinischen Rehabilitation haben sich in den letzten Jahren stark gewandelt: Ärzte, Pfleger und Physiotherapeuten werden heu- te durch Massage- und Lymphtherapie, Ergotherapie, Psychologie, Diätologie, Logopädie, Sportwissenschaft, Orthopädietechnik und Sozialdienste ergänzt. Die Mediziner spielen hier eine zentrale Rolle: Sie koordinieren das interdisziplinäre Team, behandeln (Begleit-)Erkran- kungen und entscheiden letztendlich, welche Therapieschritte wann gesetzt werden. Der Arzt ist Ausführender und Überwacher zugleich: Er analysiert, steuert und beobachtet den gesam- ten Rehabilitationsprozess. Dies wird auch im aktuellen Rehabilitationsplan 2016 erläutert, wo- nach „… Rehabilitation immer an einen endverantwortlichen Arzt gebunden …“ ist.
Status der „funktionellen Gesundheit“
Am Beginn und auch während der Rehabilitation wird mittels objektiver Messwerte, Tests und Fragebogen überprüft, welcher Status der „funktionellen Gesundheit“ vorliegt, welche Funkti- onsfähigkeiten vorhanden sind und welcher Fortschritt stattfindet (= Assessment). Die Rehabi- litationsziele orientieren sich in erste Linie an den Erwartungen des Patienten und an den Vor- gaben seitens der Akutmedizin, der kurativen Medizin. Im therapeutischen Team werden die- se Ziele gemeinsam mit dem Patienten festgelegt und laufend evaluiert. Dementsprechend wird dann der individuelle Therapieplan erstellt (= Assignment) und die therapeutischen Maß- nahmen werden durchgeführt (= Intervention). Zu klären ist, ob eine Rehabilitationsbedürftig- keit und eine Rehabilitationsfähigkeit vorliegen und welche Rehabilitationsprognose besteht. Alle diese Parameter bestimmen letztlich auch die Erreichbarkeit der festgelegten Rehabilitationsziele.
Ist trotz entsprechender Schritte keine Besserung festzustellen oder treten sogar neue Proble- me auf, wird die Strategie, die der Arzt anfangs festgelegt hat, neu überarbeitet und ange- passt. Unter Umständen muss auch eine Rückmeldung an die entsprechende Abteilung der „Akutmedizin“, zum Beispiel den Operateur, erfolgen.
Abstimmung der Behandlungsstrategie
Die lückenlose Zusammenarbeit des gesamten Rehabilitationsteams ist wichtig. Alle am Reha- Prozess beteiligten Personen, wenn erforderlich auch die Angehörigen, müssen in engem In- formationsaustausch stehen und sollten zu jedem Zeitpunkt über denselben Informations- stand verfügen. Teambesprechungen sind hierfür eine wichtige Plattform. Dabei stellt die „In- ternational Classification of Functioning, Disability and Health (ICF)“ die Basis für eine gemein- same Sprache dar.
Innerhalb des Behandlungsteams erfolgt eine stetige Abstimmung der Behandlungsstrategie: wichtige Kontextfaktoren werden miteinander abgeglichen, stagnierende Fortschritte werden besprochen und allgemeine Fragen werden geklärt. Das Verständnis für die Bedürfnisse und Ziele aller Beteiligten am Behandlungsprozess ist für eine gute Kommunikation und die Quali- tät des Ergebnisses ausschlaggebend.
Individuelle Zielsetzung mittels ICF
Auf Basis der ICF werden auch die Wünsche und Lebensumstände des Patienten miteinbezo- gen. Zwei Patienten mit demselben Krankheitsbild oder denselben körperlichen Einschrän- kungen können dennoch im Alltag ganz unterschiedliche Bedürfnisse haben. So kann etwa der eine Schlaganfall-Patient mit halbseitiger Lähmung zu Hause viel Unterstützung von sei- nen Angehörigen erfahren, während der andere alleine in einer Stockwohnung ohne Lift wohnt.
Die ICF ermöglicht somit, den funktionalen Gesundheitszustand des Patienten und die damit einhergehende soziale Beeinträchtigung zu beschreiben und somit eine transparente und nachvollziehbare Rehabilitation durchzuführen.
Individualisierung für bessere Therapieergebnisse
Gerade in den vergangenen Jahrzehnten ist eine einheitliche Systematik unverzichtbar gewor- den: Die Lebenserwartung steigt stetig an, gleichzeitig auch die Zahl chronischer Erkrankun- gen. Der Bedarf an Rehabilitation wird nicht zuletzt deshalb immer größer. Gesundheit, Mobili- tät, Kommunikation, Erwerbstätigkeit, aber auch Selbstbestimmtheit und Teilnahme am sozia- len Leben sind immer wichtigere Aspekte, die in Rehabilitationsziele mit einfließen müssen, um das Gesundheitssystem langfristig entlasten zu können. Ein Therapiekonzept nach den Kriterien der ICF ist damit nicht nur ökonomisch, sondern auch individuell das Beste für den Patienten.
Ein weiterer Vorteil der ICF im Vergleich zu früheren Modellen ist ihr erneuerter Zugang. Hier wird nicht mehr defizit-, sondern ressourcenorientiert gearbeitet und kann auf alle Menschen, sei es mit oder ohne Behinderung, ganz objektiv bezogen werden. Das macht die ICF nicht nur praktikabler, sondern auch fortschrittlicher in ihrem Gedankenkonzept. Man nimmt hier be- wusst Abstand von der Frage, was der Patient nicht kann. Stattdessen liegt die Konzentration darauf, was der Patient braucht. Die ICF kann hierbei auf individueller, institutioneller und so- zialer Ebene eingesetzt werden. Sie beruht auf einem mehrachsigen Modell, da sie die bio- psychosozialen Aspekte einbezieht.
Erfolge messen und bewerten
Die ICF ist es auch, die die Ergebnisse einer Rehabilitation messbar macht: Auf ihrer Basis sollen systematische Ergebnisqualitätsmessungen erfolgen und laufend den Prozess sowie das Ergebnis evaluieren. Die ICF wird weltweit auch zur Beschreibung und Evaluierung von Gesundheitseinrichtungen, etwa Rehabilitationskliniken und Pflegeheimen, genutzt. Die Mes- sung und Evaluation einzelner und systematisierter Prozesse im Sinne eines Qualitätsmanage- ments mit Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität ist heute unerlässlich und eine Vorausset- zung für eine konstante Weiterentwicklung von Rehabilitationsprogrammen. Mittels ICF wer- den zudem auch gesundheitsökonomische Daten gesammelt, die uns ermöglichen, Gesund- heits- und Krankheitskosten zu überwachen und in weiterer Konsequenz gesundheitspoliti- sche Strategien für die Zukunft aufzeigen zu können. Die ICF ist damit eine alltagstaugliche Methode, um Daten für die Rehabilitationsforschung zu gewinnen.
Personalisierte Therapiekonzepte
Individualisierung und Personalisierung werden in der Medizin fächerunabhängig immer wich- tiger: Noch nie hat sich die Forschung so flächendeckend auf zielgerichtete, individualisierte Therapien fokussiert. Gerade in der Rehabilitation ist dies besonders sinnvoll: Für Sportler ist ein individuelles Trainingsprogramm schon lange gang und gäbe – dass auch Rehabilitations- patienten davon profitieren, ist nur naheliegend.
Praxisbeispiel: Rehazentrum Kitzbühel
Als Beispiel, wie eine personalisierte Rehabilitation unter Anwendung der ICF-Systematik in der Praxis aussehen kann, dient etwa das orthopädische Rehabilitationszentrum in Kitzbühel. Hier wird der neue Standard bereits praktiziert, bis Ende 2017 soll er schrittweise in allen Re- habilitationseinrichtungen der VAMED-Gruppe eingeführt werden.
Schon bei der Aufnahme gibt es für jeden Patienten ein breitgefächertes aktivitäts- und partizi- pationsorientiertes Assessment. In umfassenden Aufnahmeuntersuchungen mittels internatio- nal standardisierter Tests und Fragebögen erhebt ein interdisziplinäres Team mit Medizinern, Pflegepersonal, Psychologen, Diätologen, Physio- und Ergotherapeuten nach objektiven Messwerten den gesamten Funktionszustand des Patienten und beurteilt die körperlichen und sozialen Beeinträchtigungen.
Gemessen werden hierbei unter anderem Kraft und Beweglichkeit, aber auch die psychische Verfassung des Einzelnen. Unter ärztlicher Leitung wird gemeinsam mit dem Patienten je nach erreichter Punktezahl ein individueller Therapieplan festgelegt. Der Patient selbst ist wichtiger Teil dieses Prozesses und definiert dabei gemeinsam mit dem Behandlungsteam seine per- sönlichen Ziele. Basierend auf messbaren Werten und dem aktuellen Fortschritt des Patienten wird der Therapieplan auch während der Rehabilitation in interdisziplinären Therapiebespre- chungen für eine bestmögliche Zielerreichung optimiert. Für eine individualisierte und opti- mierte Behandlung wurden in Kitzbühel insgesamt 31 ICF-basierte Rehabilitationsziele katalo- gisiert und 22 daran anknüpfende, validierte Testverfahren definiert.
Es ist geplant, dass am Ende der Rehabilitation sowie drei, sechs und zwölf Monate nach Be- handlungsabschluss der Patient das anfängliche Assessment wiederholt. Verbessert zum Bei- spiel ein Patient mit anfänglichen depressiven Verstimmungen bei der Auswertung seines Fra- gebogens seinen Wert auf der Depressionsskala (Hospital Anxiety and Depression Scale – HADS) von über 8 Punkten auf 7 oder weniger, ist sein psychischer Zustand „nicht mehr kli- nisch relevant“ und ein Erfolg der Therapie klar messbar.
Dasselbe gilt auch für rein körperliche Ziele wie Verbesserung der Feinmotorik, Sensorik oder andere körperliche und seelische Fähigkeiten und Fertigkeiten. Wurden Ziele nicht erreicht bzw. besteht noch Bedarf oder Möglichkeit zur Verbesserung, können dem Patienten für die Zeit nach der Rehabilitation weitere individuelle konkrete Behandlungsempfehlungen mit auf den Weg gegeben werden. ■
AUTOR:
Prim. Priv.-Doz. Dr. Michael Fischer
Ärztlicher Leiter Rehazentrum Kitzbühel – eine Gesundheitseinrichtung der VAMED