FORTBILDUNG & KLINIK I Evaluierung Gewaltschutz
foto: zvg, med uni wien, istockphoto/ Nadezhda1906
FOKUS: Schnittstelle
zwischen Medizin
und Recht
Die tatzeitnahe Dokumentation und Abklärung von Verletzungen in einem standardisierten Ver- fahren führt nachweislich zu einer Verbesserung des Kinderschutzes. Eine dauerhafte Finanzie- rung und gesetzliche Verankerung ist noch offen.
In der Regel werden forensische Untersuchungen an Opfern von Gewalttaten durch medizinische Sachverständige nur im Rahmen eines Ermitt- lungsverfahrens im Auftrag von Staatsanwaltschaften bzw. der Gerichte durchgeführt. Dieser Auftrag zur Untersuchung erfolgt oft einige Zeit nach der unmittelbaren Verletzung. Dann sind die Folgen der Tat oft nicht mehr sichtbar und es kann lediglich auf die allgemeine medizinische Doku- mentation zurückgegriffen werden, die vor allem im Hinblick auf die kurative Tätigkeit des Arztes erstellt wurde. In diesen Fällen ist die Dokumenta- tion der Verletzungen oft nicht ausreichend oder für ein Gerichtsverfahren nicht verwertbar. Abhilfe hierzu schaffen forensische Untersuchungsstel- len. Aus diesem Grund wurde 2015 am AKH die Forensische Kinder- und Jugenduntersuchungsstelle (FOKUS) etabliert.
Diese in Österreich einzigartige Stelle dient der tatzeitnahen Dokumentation und Abklärung von Verletzungen anhand von vorhandenen und objek- tivierbaren Spuren in einem standardisierten Verfahren für Kinder und Jugendliche. Mit FOKUS soll eine Verbesserung der gerichtsmedizinischen Sachverständigenbeweise von Gewalt- und Missbrauchsopfern erfolgen, damit die Ermittlungsbehörden und Gerichte effektiv arbeiten können. Nun liegen die Ergebnisse der begleitenden Evaluierungsstudie des Instituts für Ethik und Recht in der Medizin (IERM) vor.
Sämtliche von FOKUS behandelten Fälle wurden von einem interdisziplinären Forschungsteam un- ter der Leitung von Dr. Maria Kletečka-Pulker und Mag. Klara Doppler ausgewertet: Jeder Fall zwi- schen Juli 2015 und Juni 2017 vom Erstverdacht über weitere Ermittlungsschritte bis hin zu einer möglichen Hauptverhandlung wurde analysiert. Durch pseudonymisierte Analyse aller Gerichtsak- ten der von FOKUS behandelten Fälle sollten jene Faktoren aufgezeigt werden, die Auswirkungen auf das Gerichtsverfahren haben und folglich einen etwaigen weiteren Handlungsbedarf im Be- reich des Gewaltschutzes aufgezeigt werden. Von 233 untersuchten Fällen gab es bei 173 Fällen einen begründeten Verdacht auf Misshandlung (durch Experten der Kinderschutzgruppe, FOKUS bzw. Gerichtsmedizin), dennoch wurde in nur 62 Fällen ein Ermittlungsverfahren eingeleitet und letztlich gab es nur elf Verurteilungen und in zwei Fällen eine Diversion.
Dauerhafte Finanzierung gefordert
Kletečka-Pulker fordert eine gesetzliche Grundlage und eine dauerhafte adäquate Finanzierung für die Untersuchungsstelle: „Es gibt keinen ausreichenden und effektiven Rechtsschutz für minder- jährige Opfer. Die Einstellung des Verfahrens oder der Umstand, dass nicht weiter ermittelt wird, führt zu einer Retraumatisierung der Opfer. Die Kinderschutzgruppen und FOKUS leisten hervorra- gende Arbeit. Es muss die Schnittstelle zwischen Medizin und Rechtspflege deutlich verbessert werden. Die tatzeitnahe Dokumentation und Abklärung von Verletzungen anhand von vorhandenen und objektivierbaren Spuren in einem standardisierten Verfahren führen nachweislich zu einer Ver-
besserung des Kinderschutzes.“ Eine gesetzliche Verankerung von Gewaltambulanzen und eine damit einhergehende dauerhafte Finanzierung würde eine Verbesserung der Schnittstelle zwischen Medizin und Rechtspflege bringen sowie die Effektivität des Rechtsschutzes verbessern.
Die Ergebnisse der Untersuchung unterstreichen, wie schwierig die erfolgreiche Verfolgung von Tätern in Fällen von Kindesmisshandlung ist. „Trotz des wachsenden Bewusstseins rund um das Thema Kindesmisshandlung und dessen Prävention und Aufdeckung führen die meisten be- gründeten Kindesmisshandlungen nicht zu einem Gerichtsverfahren und nur ein kleiner Bruchteil endet in einer erfolgreichen Verurteilung der Tä- ter. Daher ist es dringend geboten, die Arbeit der Kinderschutzgruppen und von FOKUS zu stärken, um so die gerichtsmedizinische Beweislage in jedem Ermittlungsschritt zu verbessern“, so Kletečka-Pulker.
Kliniken meist erste Kontaktstelle
Kliniken sind bei Gewalt und Missbrauch verbunden mit Verletzungen oder klinischen Auf- fälligkeiten meist die erste Kontaktstelle und damit wesentlich für die korrekte Diagnostik, Behandlung und Dokumentation verantwortlich. „Es bedarf standardisierter Prozessabläu- fe, Schulungen und Fortbildungen sowie zentral einer medizinischen 24/7-Expertise zur korrekten Durchführung und Dokumentation betreffend Angaben zum Geschehenen, der körperlichen Untersuchung inklusive Fotodokumentation, Zusatzuntersuchungen und Spu- rensicherung sowie Meldung bzw. Anzeige“, fordert Univ.-Prof. Dr. Susanne Greber-Platzer, MBA, Leiterin der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendheilkunde und von FOKUS.
Die erfolgreiche Arbeit von FOKUS und der Österreichischen Gesellschaft für Kinderschutz Medizin (ÖGKiM) umfasst eine österreichweite standardisierte Vorlage bei Verdacht von Kindesmisshandlung und den Aufbau eines Ausbildungs- und Fortbildungsprogramm zu Gewalt und Missbrauch. Die dringend geforderte finanzielle Unterstützung zur adäquaten personellen Ausstattung und der Etablierung einer österreichweiten 24-Stunden-Kinder- schutz-Telefonbereitschaft, ähnlich dem erfolgreichen Modell in Deutschland, ist ungeklärt.
Durchbrechen der Gewaltspirale
Ass.-Prof. Mag. Dr. Sabine Völkl-Kernstock, von der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und ebenfalls im Leitungsteam von FOKUS, meint: „Kinder und Jugendliche, die einem Missbrauch oder einer Misshandlung ausgesetzt waren oder Misshand- lungen oder Gewalt beobachten mussten, haben ein signifikant erhöhtes Risiko, an einer – das Leben er- schwerenden – psychiatrischen oder körperlichen Er- krankung zu erkranken.“ So ist das Risiko für Überge- wicht ein bis zweifach, für Alkoholmissbrauch zwei- bis dreifach, für riskantes sexuelles Verhalten
oder psychische Erkrankung drei- bis sechsfach sowie für Drogenmissbrauch und interpersonale Gewalt mehr als siebenfach erhöht. Prävention ist zentral, vor allem wenn es um sekundäre und tertiäre Prävention zur Ver- hinderung von Krankheit und deren Folgen sowie ein Durchbrechen der Gewaltspirale geht.
rh