MEDIZIN | Diabetes
Foto: Universitätsklinikum Ulm, istockphoto/ Vaselena
Adipositas beginnt in jungen Jahren
Starkes Übergewicht oder Adipositas ist einer der wichtigsten beeinflussbaren Risikofaktoren für die Entstehung von Diabetes Typ 2. Adipositas oder auch starkes Übergewicht entwickelt sich bei Be- troffenen häufig schon im Kindes- und Jugendalter.
AUTOR:
Dr. Martin Wabitsch
Leiter der Abteilung Pädiatrische Endokrinologie und Diabetologie und des endokrinologischen Forschungslabors
Universitätsklinik für Kinder und Jugendmedizin Ulm, www.uniklinik-ulm.de
Eine repräsentative Forsa-Umfrage der deutschen Adipositas-Gesell- schaft (DAG) und des Else Kröner-Fresenius-Zentrums (EKFZ) für Ernäh- rungsmedizin an der Technischen Universität München zeigte, dass jedes sechste Kind in Deutschland während der Pandemie an Gewicht zunahm, fast die Hälfte bewegte sich weniger als zuvor und etwa ein Viertel isst mehr Süßwaren1. Experten rechnen in den nächsten Jahrzehnten mit ei-
nem weiteren Anstieg an Diabetes-Fällen. Die Deutsche Diabetes Gesellschaft (DDG) betont daher einmal mehr den Stellenwert von Prävention und setzt sich verstärkt für eine Entstigmatisierung nicht übertragbarer Krankheiten wie Adipositas und Diabetes Typ 2 ein.
Verhaltenstherapeutische Ansätze reichen nicht
Während der Coronapandemie haben 39 % der Deutschen im Durchschnitt 5,6 Kilogramm zugenommen, bei Menschen mit Adipositas waren es sogar 7,2 Kilogramm2. Bundesweit sind 800.000 Kinder und Jugendliche an Adipositas erkrankt, davon ca. 100.000 Jugendliche mit extremer Adi- positas. Ein beträchtlicher Teil der Jugendlichen mit extremer Adipositas hat bereits eine gestörte Glukosetoleranz. Unsere heutigen Lebensbedin- gungen – mit Bewegungsarmut und mit einem stets verfügbaren Überangebot an kalorienreicher Nahrung – spielen bei der Entstehung von Adipo- sitas eine große Rolle. Es ist allerdings auch bekannt, dass die Betroffenen eine genetische Veranlagung für Adipositas aufweisen. Wir entdecken immer wieder neue Gene und Genvarianten, die das Körpergewicht unter den gegebenen Lebensbedingungen beeinflussen. Bei etwa jedem fünf- ten Kind mit starkem Übergewicht liegt eine Gen-Variante im Erbgut vor, die für eine Fehlfunktion der Hunger- oder Sättigungsregulation im Gehirn verantwortlich ist. Diese jungen Betroffenen entwickeln schon im Vorschulalter Adipositas. Bei ihnen zeigen verhaltenstherapeutische Ansätze ohne weitere Behandlung ein nicht befriedigendes Ergebnis bezüglich der Gewichtskontrolle.
Seit Kurzem ist für Kinder und Jugendliche ab zwölf Jahren auch ein Medikament zugelassen, das bereits bei Erwachsenen zur Dauertherapie des Typ-2-Diabetes und Adipositas eingesetzt wird. Es gehört zur Medikamentenklasse der sogenannten Inkretinmimetika oder GLP-1-Rezeptoragonis- ten. Es ahmt die sättigende Wirkung des Darmhormons GLP-1 nach und wirkt gut in Kombination mit einer Lebensstilanpassung, also mehr Bewe- gung und einer Ernährungsumstellung. Die jungen Patienten empfinden bei dieser kombinierten Therapie zum ersten Mal Sättigung statt Dauer- hunger – ein völlig neues Lebensgefühl. Das noch neue Wissen über die genetischen Ursachen der Adipositas und auch die Wirkung neuer Medi- kamente trägt dazu bei, Betroffene und ihre Familien psychisch zu entlasten.
Adipositas als Krankheit anerkennen
Wir müssen die Erkrankung Adipositas in der Gesellschaft, aber auch im medizinischen System entstigmatisieren. Dazu kann auch das neue Di- sease-Management-Programm Adipositas beitragen, das derzeit im Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) erarbeitet werde. Es gibt bereits Überlegungen, nach dessen Zulassung auch ein eigenes strukturiertes Behandlungsprogramm für Kinder und Jugendliche mit Adipositas zu kon- zipieren. Dadurch wird Adipositas als Krankheit anerkannt sowie Kindern und Jugendlichen eine Behandlung nach evidenzbasierten Leitlinien er- möglicht3. Außerdem setzen sich die Experten der Fachgesellschaft dafür ein, dass medikamentöse Adipositastherapien künftig nach Indikations- prüfung von den gesetzlichen Krankenkassen erstattet werden.