Medizin & recht Pandemie

Was muss ein

neues Epidemie- gesetz können?

Das Österreichische Epidemiegesetz stammt aus dem Jahr 1913 und kann durchaus als „reformbe- dürftig“ bezeichnet werden. Wie künftig die Grundlagen aus medizinischer, ethischer und rechtlicher Sicht für den Umgang mit anstecken- den Erkrankungen aussehen sollten, haben Ex- perten kürzlich in Wien diskutiert.

Wenn ein Gesetz eine so sensible Materie wie ansteckende Erkrankungen behandelt, so braucht das mehr als alles andere das Vertrauen der Bür- ger in den Staat. Obwohl wir immer damit rechnen mussten, dass uns eine Pandemie treffen kann, gab es dafür keine passenden Vorbereitungen“, beschreibt Dr. Christiane Druml, Vorsitzende der Bioethikkommission, UNESCO Lehrstuhl für Bioethik und Leiterin des Josefinums, die Ausgangs- lage. Österreich hat sich zwar ab dem 18. Jahrhundert in der Bekämpfung von Pest, Pocken oder Cholera eine fundierte medizinische und auch organisatorische Expertise geschaffen, doch die ist nicht mehr zeitgemäß. Wie wir alle als Zeitzeugen erlebt haben, sind die Pandemiepläne veral- tet und organisatorische Strukturen für ein aktuelles Pandemiemanagement in einer global vernetzten Welt nicht vorhanden.


Historische Vorbilder

„Auch wenn die Spanische Grippe gezeigt hat, wie rasch sich eine Erkrankung verbreiten kann, so sind die Rahmenbedingungen nicht vergleich- bar mit jenen, die uns das Coronavirus vorgeben hat“, betont Univ.-Prof. Dr. Karl Stöger, Abteilung Medizinrecht am Institut für Staats- und Verwal- tungsrecht und stellvertretender Vorstand des Instituts für Ethik und Recht in der Medizin, Universität Wien. Das Epidemiegesetz zu überarbeiten hatte keine hohe Dringlichkeit, bis die aktuelle Lage diesen Schritt rascher als gedacht erforderlich machte. Um der Dynamik Rechnung zu tragen, wurde in kürzester Zeit ein Covid-19-Maßnahmengesetz erlassen, das nur ungenügend auf die komplexen Bedürfnisse eingehen konnte.

Medizinhistoriker Univ.-Prof. Mag. Dr. Herwig Czech beschreibt, dass die aktuellen Maßnahmen keineswegs neu sind: „Der Lockdown ist eine der ältesten Strategien, die schon zur Zeit der Pest eingesetzt wurde, um die Ausbreitung der Erkrankung durch Kontaktbeschränkungen zu verhin- dern.“ Im Jahr 1540 erhielt Wien mit einem „Magister Sanitatis“, einem Angehörigen der Medizinischen Fakultät, der als oberster Gesundheitsfunk- tionär der Stadt tätig war, seinen ersten Amtsarzt. Die Parallelen zur Gegenwart sind verblüffend: Der Job für den erstmals amtlich besoldeten „Pestarzt“ war nicht nur gefährlich, sondern auch so schlecht entlohnt, dass kaum Personal zu finden war und manche Ärzte nicht an der Pest, sondern an Hunger starben.

Der Arzt und Rektor der Universität Wien, Paul de Sorbait, war im Jahr 1681 Herausgeber der ersten Pest-Ordnung, Kaiserin Maria Theresia, ihr Leibarzt Van Swieten und später Josef II. ebneten den Weg für den Ausbau des öffentlichen Gesundheitswesens.


Bewährungsprobe für das Epidemiegesetz

Das Epidemiegesetz von 1913 schrieb bereits den Umgang mit Infektionskrank- heiten, Meldepflichten, Absonderungen oder Maßnahmen zu Verkehrs- und Be- triebsbeschränkungen vor. „Damals erwartete niemand, dass nur wenige Jahre danach die dramatische Bewährungsprobe der Materie aufgrund der Spanischen Grippe stattfinden sollte“, sagt Czech und ergänzt: „Österreich hatte auch am 24. November 1917 als erstes Land Europas ein k. k. Ministerium für Volksgesundheit eingerichtet. In der Bekämpfung der Spanischen Grippe hat uns das aber keine erkennbaren Vorteile gebracht.“ Im Herbst 1918 wurden Schulen, Theater und Ki- nos geschlossen, die Strategie bestand letztlich darin, die Krankheit „durchlau- fen“ zu lassen. „Eine Meldepflicht war damals nicht vorgesehen, weil die Möglich- keit zur Differenzialdiagnostik fehlte“, beschreibt Czech. Während in den USA die Maskenpflicht damals die Ausbreitung zumindest eindämmte, wurde das Tragen der Masken in Österreich weitgehend abgelehnt.


Braucht es ein Primat der Medizin?

Im Jahr 1950 wurde das Epidemiegesetz wieder verlautbart. Die wesentlichen Neuerungen umfassten die Aufnahme neuer anzeigenpflichtiger Er- krankungen wie etwa der Kinderlähmung. „Eine Influenza hat man aber auch zu diesem Zeitpunkt nicht ergänzt“, sagt Cezch.

„Das Gesetz vermittelt den Eindruck, dass es ein Flickwerk ist, das sich in den letzten zwei Jahren noch verdoppelt hat. Dazu gekommen sind Punkte, die ausschließlich auf die aktuelle Pandemie abzielen, und das ist eine völlig falsche Entwicklung“, beschreibt Univ.-Prof. Dr. Markus Müller, Rektor der MedUni Wien und Präsident des Obersten Sanitätsrats, seinen Eindruck. Denn: „Das Gesetz muss so formuliert sein, dass es für alle In- fektionskrankheiten gilt, denn sonst sind wir für künftige Ereignisse wieder nicht gerüstet. Das ist wie ein Haus ohne Feuerlöscher, den man dann verwundert sucht, wenn es brennt.“

Dass Österreich – und vermutlich die Welt – auf die Ereignisse aus 2019 nicht vorbereitet waren, steht mittlerweile außer Frage. Die Experten sind sich aber auch einig, dass nicht alles in ein Gesetz zu gießen ist, denn viele Fragen der Pandemievorsorge betreffen auch strukturelle Rahmenbe- dingungen, die nichts mit medizinischen Fragen zu tun haben. „Es gibt asiatische Länder, die waren sicher besser vorbereitet, aber viele der dort gesetzten Maßnahmen entsprechen nicht unserem Demokratieverständnis. Hier wäre es die Aufgabe des Gesetzgebers, vorausschauend zu agie- ren“, sind sich die Experten einig. Schwierigkeiten bereiten hier auch die föderalen Strukturen, die einem Gesundheitsminister auch nicht die erfor- derlichen Rechte einräumen (wollen).

„Unsere Verfassung bietet trotz ihres Alters eine sehr gute Grundlage“, ist Stöger überzeugt und weist auf Maßnahmen wie Ausgangsbeschränkun- gen oder Impfpflicht hin: „Das ist kein verfassungsrechtliches Problem, sondern rein politisch.“ Denn die Europäische Menschenrechtskonvention (MRK) ist gemäß BVG BGBl. Nr. 59/1964 mit Verfassungsrang ausgestattet und der Artikel 8 MRK das „Recht auf Achtung des Privat- und Famili- enlebens“ erlaubt einen Eingriff einer Behörde, wenn die Maßnahme in einer demokratischen Gesellschaft „… für die nationale Sicherheit, die öf- fentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlun- gen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.“ Mit einem passenden Gesetz – das schließlich auch im September 2020 erlassen wurde –, gibt die Verfassung demnach ausreichend Spielraum für Maßnahmen. „Dafür braucht es nur eine Begründung und die Unterstützung von Sachverständigen, etwa aus der Medizin. Das Epidemiegesetz in der Urform gab das aber nicht her. Das Covid-19-Maßnahmengesetz ist zwar schlecht lesbar, hat aber diese Mängel weitgehend behoben“, beschreibt Stöger die Situation.


Pandemie ist keine Privatsache

Aus ethischer Sicht sind Eingriffe in das Privatleben auch möglich, dabei ist das gelin- deste Mittel der Wahl zu nehmen. „Eine Pandemie ist keine Privatsache! Der Staat hat die Fürsorgepflicht, seine Bürger vor schweren Erkrankungen zu schützen, aber auch die Wirtschaft und viele andere Bereiche des öffentlichen Zusammenlebens nicht aus den Augen zu lassen“, sagt Drumml. Aus ihrer Sicht ist für die Eingriffe in die Freiheit jedenfalls die epidemiologische Gefährdung das Maß aller Dinge. Die Maßzahl für das Inkrafttreten von Maßnahmen ist die Auslastung der Intensivstationen. „Es geht nicht darum, dass hier Privilegien verteilt werden, sondern dass es Einschränkungen für Menschen gibt, die ansteckend sind“, so Drumml. Das braucht einen Stufenbau der adäquaten Mittel. Und es braucht die Sicherheit, dass die Einschränkungen vorbei sind, sobald die Gefährdung wegfällt – aktuell sind die einschlägigen Gesetzesmateri- en bis Mitte 2022 in Kraft.

„Auch wenn die Inhalte zum Teil unpopulär sind, so brauchen wir ein Epidemiegesetz, das unbefristet ist. Man wird in Planstellen investieren müssen, die abseits der Pande- mie diese wichtige Materie aufarbeiten und vorbereiten“, fordert Stöger. Textstellen, die sich jetzt auf Covid-19 fokussieren, sollten noch neutralisiert – etwa in ansteckende Erkrankungen – werden, um die Anwendung auch für anderen Pandemien zu öffnen. Auch Müller fordert Reformen: „Eine zentrale Anlaufstelle zur Koordinierung, wie etwa das Robert-Koch-Institut in Deutschland ist, wäre sinnvoll.“


rh