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Mehr Telemedizin, leicht zugängliche Betrof- fenenbetreuung und gezielter Einsatz digita- ler Tools verbessern Versorgung und For- schung bei seltenen Erkrankungen. Hat die Pandemie der Versorgung von Menschen mit seltenen Erkrankungen neue Wege geebnet?
Viele der seltenen Erkrankungen sind betreuungsintensiv. Engmaschige Kontrollen sind daher notwendig, um recht- zeitig auf Verschlechterungen im Krankheitsverlauf reagieren zu können. Doch aus Angst vor einer Corona-Infektion unterbrachen viele Patienten im letzten Jahr ihre Therapien oder erschienen nicht zur Kontrolle im Spital.
Der persönliche Kontakt zum medizinischen Personal wurde teils durch digitale Tools unterstützt, worin ein großes Potenzial auch für die Post-Covid-19-Zeit liegt, wie Onkologe, Psychotherapeut und Programmdirektor für Telemedi- zin Dr. Alexander Gaiger von der Medizinischen Universität Wien erklärt: „Würden Betroffene regelmäßig ihre Sym- ptome über eine datenschutzkonforme und benutzerfreundliche App dokumentieren, wie über das derzeit an der Medizinischen Universität Wien eingesetzte ESMART-System, wäre dadurch auch eine Datenauswertung in Echtzeit bei anderen chronischen Erkrankungen möglich. Je nachdem, wie akut ein Symptom ausfällt, könnten in weiterer Folge bereits erste Behandlungsempfehlungen über das digitale Tool an Patienten gehen, und zwar noch lange, be- vor sie den Weg in das nächste Spital antreten müssten. Der wesentlichste Nutzen wird aber darin gesehen, dass dadurch der Ärzteschaft Zeit für das persönliche Gespräch mit den Patienten bleibt, da die Gesundheitsdaten be- reits dokumentiert vorliegen und nicht während der Visite zeitaufwendig, und wegen Erinnerungslücken oft mangel- haft, erhoben werden müssen.“
Ausbau hilft chronisch Kranken
Gerade in der Pandemie habe es laut Herwig Ostermann, Geschäftsführer der Gesundheit Österreich GmbH, durch die hohe Zahl an Infektionen eine Reihe von logistischen Herausforderungen im Gesundheitssystem gegeben. „Me- dizinische Leistungen haben sich zwar teilweise verschoben, aber das Basisprogramm unseres Gesundheitssys-
tems konnte unter großen Anstrengungen aufrechterhalten werden“, so Ostermann mit Verweis auf nicht dringende medizinische Eingriffe und Operationen, die mit Blick auf die jeweils aktuellen Covid-19-Infektionszahlen aufgeschoben wurden. Da seltene Erkrankungen nur schwer zu dia- gnostizieren seien und vielfach selbst bei Feststellung der Erkrankung keine spezifischen Diagnosecodes für Dokumentationszwecke vorliegen, können für diese Patientengruppen leider keine statistisch quantifizierbaren Aussagen zu einer allfälligen Veränderung der Gesundheitsversor- gung im letzten Pandemiejahr getätigt werden. Ein verstärkter Ausbau der Digitalisierung im Spitalsalltag sowie in der Datenerfassung und Aufbe- reitung, um die Betreuung von chronischen Patienten zu verbessern, wird auch von Ostermann als wichtig erachtet.
Daten einheitlich erfassen
Patientenvertreterin Michaela Weigl von der Gesellschaft für MukoPolySaccharidosen (MPS) und Pro Rare Austria sieht in der Digitalisierung auch einen großen Nutzen, relativiert aber die Sicht: „Nicht immer sind digitale Tools die richtige Lösung.“ Weigl sieht bei deren Einsatz klare Grenzen, etwa bei der Physiotherapie oder bei der psychosozialen Begleitung. „Wenn Therapeuten im Rahmen der Behandlung mit Patienten physisch in-
teragieren müssen, stößt die Telemedizin an ihre Grenzen“, erklärt Weigl. Bei seltenen Erkrankungen jedoch biete ein digitales Angebot mehr Möglichkeiten, um den Kontakt zu den behandelnden Ärzten zu halten. Wesentliche Grund- lage dafür ist aber auch eine Verrechnungsmöglichkeit dieser telemedizinischen Leistungen, damit diese auch vom medizinischen Fachpersonal angeboten werden kann. Unabhängig davon weist Weigl darauf hin, dass begleitende Therapien, Vorsorgeuntersuchungen und Jahreskontrollen nicht vernachlässigt werden sollten, da sonst Kollateral- schäden drohen würden. Außerdem sei es wichtig, einheitliche Register mit einer standardisierten Dateneingabe zu forcieren, die vergleichbar sind und eine objektive Auswertbarkeit von Gesundheitsdaten ermöglichen. Hierbei kön- ne die Digitalisierung einen entscheidenden Beitrag leisten.
Bei zu hohen Anforderungen könnten sich digitale Tools unter Umständen jedoch auch negativ auswirken, wenn sich etwa Betroffene permanent über ein digitales Tagebuch mit ihrer Behandlung auseinandersetzen müssen, obwohl sie aus psychohygienischen Gründen Distanz zu ihrer Erkrankung nötig hätten. „Ein sinnvolles sowie maßvolles Ein- setzen dieser digitalen Tools ist geboten, damit weiterhin eine Trennlinie zwischen Mensch und Krankheit gezogen werden kann. Es soll kein Mehraufwand, sondern eine Entlastung von Betroffenen und Versorgern erreicht werden“, sagt Dr. Daniela Karall, stellvertretende Direktorin der Innsbrucker Unikinderklinik und Obfrau des Forums Seltene Krankheiten und wirft auch die Frage nach der vermeintlich leichten Anwendbarkeit auf. Denn nicht für alle Patienten jeden Alters sei die Handhabung von Gesundheitsapps gleichermaßen barrierefrei. Als wesentliche Grundlage, um solche digitalen Tools sinnvoll einsetzen zu können, wird daher weiterhin der persönliche (Erst-)Kontakt zum medizi- nischen Fachpersonal gesehen, insbesondere für die Diagnosestellung. So konnten Betroffene ohne Diagnose in den letzten Monaten nicht adäquat versorgt werden.
Effiziente Forschung
Die Errichtung europäischer Netzwerke aus speziellen Expertisezentren soll dazu beitragen, Patienten mit seltenen Erkrankungen noch gezielter zu versorgen. Doch Covid-19 hat diesbezüglich eine enorme Bremsspur hinterlassen. Das liegt laut Assoc. Prof. Priv. Doz. Dr. Till Voigtländer, Leiter des nationalen Büros zur Umsetzung und Weiterentwicklung des Nationalen Aktionsplans für seltene Erkrankungen, daran, dass „unser System nicht auf diese Pandemie vorbereitet war. Das Gesundheitsministerium und auch aussichtsreiche Kandidaten für Expertisezentren waren durch die Aus- nahmesituation stark überlastet. Das Designationsverfahren dieser Zentren hat sich dadurch um viele Monate verzögert.“ Unabhängig davon ist Voigtländer jedoch überzeugt, dass Covid-19 der virtuellen Medizin und Forschung einen markanten Schub beschert habe, der unbedingt im Sinne der Patienten mitgenommen werden sollte. Covid-19 hat wie ein Brennglas Probleme offengelegt. Die Erkenntnisse hinsichtlich sinnvoller Nutzung von Telemedizin, strukturierter Datenaufbereitung und Vernetzung sollten auch in den nationalen Aktionsplan für seltene Erkrankungen integriert werden.
Dem pflichtet auch Dr. Sylvia Nanz, stellvertretende Vorsitzende des Standing Committee Rare Diseases der PHARMIG und Medical Director bei Pfi- zer Austria Corporation GmbH, bei: „Je digitaler eine Studie im Rahmen klinischer Forschung aufgesetzt ist, desto effizienter und schneller kann man sie fortführen und auswerten. Das verleiht der Forschung Geschwindigkeit und sollte in Zukunft beibehalten werden, um Patientinnen und Pati- enten noch rascher mit innovativen Therapien versorgen zu können.“ Dennoch stellt Nanz mit Blick auf die Forschungsgeschwindigkeit bei Covid-19 klar, dass dies nicht automatisch auch für seltene Erkrankungen gelte: „Covid-19 ist eine Ausnahmesituation. Es ist undenkbar, dieses Tempo bei der Forschung und Entwicklung für andere Erkrankungen zu wiederholen. Gleichzeitig wurde offensichtlich, welchen wesentlichen Beitrag Digitali- sierung, insbesondere die gezielte und datenschutzkonforme Auswertung von Gesundheitsdaten leisten können. Gerade hier, beim Ausbau und der Vernetzung von Datenbanken haben wir in Österreich großen Nachholbedarf. Und wenn uns die Pandemie eines gelehrt hat, dann, dass sich vieles erreichen lässt, wenn man gemeinsam an einem Strang zieht.“
rh