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Chronische Fatigue:
Auch nach leichtem Verlauf
Wissenschaftler der Berliner Universitätsklinik Cha- rité haben den Zusammenhang zwischen einer überstandenen Covid-19-Infektion und einem Chro- nischen Fatigue-Syndrom neuerlich bestätigt. Ein wichtiges Diagnosekriterium könnte die Messung der Handkraft sein.
Das Chronische Fatigue-Syndrom (CFS), auch als Myalgische Enzephalomyelitis (ME) bezeichnet, ist durch eine Schwäche bzw. eine übermäßige Ermüdbarkeit der Muskulatur charakterisiert. ME/CFS wird zumeist durch einen Infekt ausgelöst und hat oft einen chronischen Verlauf. Hauptmerk- mal ist die sogenannte „Postexertionelle Malaise“, eine ausgeprägte Verstärkung der Beschwerden nach geringer körperlicher oder geistiger Be- lastung, die erst nach mehreren Stunden oder am Folgetag einsetzt und mindestens bis zum nächsten, aber oft auch mehrere Tage oder länger anhält. Sie ist verbunden mit körperlicher Schwäche, häufig Kopf- oder Muskelschmerzen sowie kognitiven und immunologischen Symptomen. Die Häufigkeit von ME/CFS in der Bevölkerung wurde weltweit bereits vor der Covid-19-Pandemie auf etwa 0,3 % geschätzt. Als Auslöser waren bisher vor allem virale Krankheitserreger wie das Epstein-Barr-Virus, das Dengue-Virus und Enteroviren bekannt. Auch unter den Personen, die sich 2002/2003 mit dem ersten Sars-Coronavirus infizierten, wurden ME/CFS-Fälle beobachtet.
Erkrankung noch wenig erforscht
Die Wissenschaftler unter Univ.-Prof. Dr. Carmen Scheibenbogen, Leiterin Immundefekt-Ambulanz und Fachärztin für Hämatologie, Onkologie und Fachimmunologin an der Universitätsklinik Charité, zeigten zunächst, dass ein Teil der Covid-19-Erkrankten auch nach mildem Verlauf das Vollbild einer solchen Erkrankung als Komplikation einer Sars-CoV-2-Infektion entwickelt. Scheibenbogen leitet das Charité Fatigue Centrum, das auf die Diagnostik von ME/CFS spezialisiert ist. Seither mehrten sich die Hinweise auf einen ursächlichen Zusammenhang zwischen Covid-19 und den langfristigen Komplikationen. „Diese Annahme wissenschaftlich zu belegen, ist nicht trivial“, erklärte die Expertin. „Das liegt auch daran, dass ME/CFS noch wenig erforscht ist und es keine einheitlichen Diagnosekriterien gibt. Durch eine sehr gründliche Diagnostik und einen umfassenden Vergleich mit ME/CFS-Betroffenen, die nach anderen Infektionen erkrankt waren, konnten wir jetzt aber nachweisen, dass ME/CFS durch Covid-19 ausgelöst werden kann.“
Für die Studie untersuchten die Wissenschaftler 42 Personen, die sich mindestens sechs Monate nach ihrer Sars-CoV-2-Infektion an das Charité Fatigue Centrum gewandt hatten, weil sie noch immer stark an krankhaften Erschöpfungszuständen und einer eingeschränkten Belastungsfähig- keit in ihrem Alltag litten. Die meisten von ihnen konnten lediglich zwei bis vier Stunden am Tag einer leichten Beschäftigung nachgehen, einige waren arbeitsunfähig und konnten sich kaum noch selbst versorgen.
Die Schwere der überstandenen Covid-19-Erkrankung war offenbar nicht entscheidend. „Während der akuten Sars-CoV-2-Infektion hatten nur drei der 42 Patienten ein Krankenhaus aufgesucht, aber keine Sauerstoffgabe benötigt. 32 von ihnen hatten einen nach der WHO-Klassifizierung mil- den Covid-19-Verlauf durchlebt, also keine Lungenentzündung entwickelt, in der Regel jedoch ein bis zwei Wochen lang starke Krankheitssympto- me wie Fieber, Husten, Muskel- und Gliederschmerzen empfunden“, gibt Scheibenbogen Einblick. Da die Sars-CoV-2-Infektion in der ersten Welle der Pandemie stattgefunden hatte, war keine der in die Studie eingeschlossenen Personen zuvor geimpft worden.
Verminderte Durchblutung als Ursache vermutet
Etwa die Hälfte der untersuchten Patienten erfüllte nach ihrer Sars-CoV-2-Infektion die Kriterien für das Vollbild einer ME/CFS-Erkrankung. Neben der Erfassung der Symptome ermittelten die Wissenschaftler verschiedene Laborwerte und setzten sie in Beziehung zur Handkraft der Erkrankten, die bei den meisten vermindert war.
„Bei den Betroffenen mit ME/CFS korrelierte die Handkraft mit dem Hormon NT-proBNP, das von Muskelzellen bei zu schlechter Sauerstoffversor- gung ausgeschüttet werden kann. Das könnte darauf hinweisen, dass bei ihnen eine verminderte Durchblutung für die Muskelschwäche verant- wortlich ist“, sagte Scheibenbogen. Die Konzentration von NT-proBNP im Blut ist ein Marker für eine Muskelschädigung und wird zum Beispiel seit Jahren auch dazu verwendet, eine akute Herzschwäche zu diagnostizieren. Die neuen Erkenntnisse könnten zur Entwicklung spezifischer Therapi- en für das Post-Covid-Syndrom und ME/CFS beitragen. „Unsere Daten liefern aber auch einen weiteren Beleg dafür, dass es sich dabei nicht um eine psychosomatische, sondern um eine schwerwiegende körperliche Erkrankung handelt, die man mit objektiven Untersuchungsmethoden er- fassen kann. Leider können wir aktuell nur symptomatisch behandeln“, so die Expertin.
_____________________________________________________________________________________ QUELLE: Kedor, C., Freitag, H., Meyer-Arndt, L. et al. A prospective observational study of post-COVID-19 chronic fatigue syndrome following the first pandemic wave in Ger- many and biomarkers associated with symptom severity. Nat Commun 13, 5104 (2022). https://doi.org/10.1038/s41467-022-32507-6