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Gewalt im Spital

Schreiduelle auf dem Gang, Rempeleien im Wartebereich und sogar Polizeieinsätze werden aus heimischen Spitälern gemeldet. Steigt das Aggressionspotenzial bei Patienten, Angehörigen und Mitarbeitern oder trügt der Schein?

„Meist reicht die Anwesenheit von

Sicherheitsfachkräften – ein Einschreiten ist selten nötig.“

Prim. Priv.-Doz. Dr. Thomas Hausner, Facharzt für Unfall- chirurgie und Ärztlicher Leiter und Primarius für Unfall- chirurgie am UKH Lorenz Böhler in Wien




Foto: Richard Varadappa

„Wir können die Persönlichkeit der

Aggressoren nicht verändern, aber wir kön- nen unsere Interaktion verändern und so Si- tuationen entscheidend beeinflussen.“

Dr. Harald Stefan, MSc., Bereichsleitung Pflege in der Krankenanstalt Rudolfstiftung und Deeskalationsexper- te des Wiener Krankenanstaltenverbundes


„Die Sorge um steigende Aggressionen im Spital ist durchaus berechtigt“, ist Primar Priv.-Doz. Dr. Thomas Haus- ner, Facharzt für Unfallchirurgie und Ärztlicher Leiter im Unfallkrankenhaus Lorenz Böhler in Wien, überzeugt. „Es gibt immer wieder verbale Attacken, manchmal auch körperliche Gewalt, bis hin zur Notwendigkeit eines Polizeiein- satzes.“ Vor zehn, fünfzehn Jahren seien Ärzte und Pflegepersonal noch Respektspersonen gewesen, denen grundsätzlich höflich begegnet wurde. Heute fehle dieser Respekt oft. Das Lorenz Böhler Krankenhaus ist vorran- gig für Arbeitsunfälle und nach Maßgabe der Kapazitäten auch für andere Unfälle zuständig. „Manchmal wollen Pa- tienten nicht akzeptieren, dass ihre Beschwerden nicht in das Muster eines Unfalls passen und daher eine andere Form der ärztlichen Versorgung die richtige ist. Das geht so weit, dass sich Menschen nicht nur verbal Luft ma- chen, sondern Gewalt anwenden“, erzählt Hausner.

Auch OA Dr. Peter Kemetzhofer, interimistischer Leiter der Abteilung für interdisziplinäre und internistische Notfall- medizin mit Ambulanz am Wiener Wilhelminenspital, registriert eine Zunahme an Gewalt: „Das Aggressionspotenzi- al steigt massiv und wird zunehmend handgreiflich mit Kratzen, Spucken und Schlagen. Verbale Bedrohungen sind fast täglich zu verzeichnen.“

Dr. Harald Stefan, MSc., Bereichsleitung Pflege in der Krankenanstalt Rudolfstiftung und Deeskalationsexperte des Wiener Krankenanstaltenverbundes (KAV), ist nicht überzeugt, dass die Zahl der Aggressions- und Gewaltfälle we- sentlich höher ist als vor zehn, fünfzehn Jahren, heute gebe es aber mehr Aufmerksamkeit dafür. Das sei auch gut so, denn auf aggressive bis gewalttätige Zwischenfälle müsse dringend professionell und rasch reagiert werden. Aus diesem Grund würden im KAV Schulungen zur Deeskalation durchgeführt. Oberstes Gebot: „Konflikte vermei- den und eine aggressionsarme Atmosphäre schaffen ist Teamsache. Gefordert sind somit alle Führungskräfte und Mitarbeiter“, ist die Empfehlung von Stefan.


Heikle Fälle

Kemetzhofer würde sich mehr Sanktionen gegen gewalttätige Personengruppen wünschen, denn „in vielen Rand- gruppen wird Gewalt als legitimes Mittel zur Durchsetzung gesehen“. Oft seien es Patientenangehörige, manchmal Patienten – egal welcher Nation oder Gesellschaftsschicht –, aber es seien nicht zwingend alkoholisierte Personen, von denen Drohungen ausgehen. Als Sicherheitsmaßnahme würde sich Kemetzhofer ständige Präsenz von Sicher- heitsfachkräften und Polizei sowie entsprechende Strafen wünschen.

Besonders problematisch ist das Thema Gewalt während der Nachtdienste – und naturgemäß insbesondere in Spi- tälern, die in sogenannten Glasscherbenbezirken liegen. Nicht gerne thematisiert werden kulturelle Unterschiede, die ungewohnte, manchmal eben auch aggressive Reaktionen mit sich bringen. Andere Kulturkreise sind aber – laut Rückfragen – deutlich öfter Auslöser von Gewaltereignissen in Spitälern als der österreichische. Offiziell möch- te dazu aber verständlicherweise niemand Stellung nehmen.

„Die Arten von Aggression sind sehr unterschiedlich“, weiß Stefan. „Sie reichen von verbalen Übergriffen ohne oder mit Drohung über passiv-aggressives Verhalten bis zu schwerer körperlicher Gewalt und sogar bis zum Suizid.“ Die Thematik werde mehr diskutiert, Belästigungen jeder Art werden öfter thematisiert, auch Alkoholisierung werde nicht mehr akzeptiert. „Aber: Wenn wir eine Tür aufmachen, sind zehn weitere dahinter, welche bei der Thematik Deeskalationsmanagement zu bearbeiten sind“, warnt Stefan. Gewalt und Aggression habe es immer gegeben und sie seien auch heute vorhanden, mit dem Unterschied, dass aufgrund der kürzeren Verweildauer auch die Zeit für die Kommunikation zu kurz komme und gleichzeitig die Thematisierung von Aggression und Gewalt kein Tabu- thema mehr sei.

Heikel sind freilich auch jene Fälle, in denen Krankenhauspersonal untereinander aggressionsbereit ist. „Bei uns im Haus ist das Arbeitsklima glücklicherweise sehr gut, wie haben keine Gewaltprobleme zwischen Ärzten, Pflegeper- sonal und anderen Mitarbeitern“, ist Hausner froh. Auch Kemetzhofer sieht hier keine Probleme im Wilhelminenspi- tal. Aus anderen Häusern wird aber hinter vorgehaltener Hand durchaus immer wieder von vor allem verbalen Atta- cken berichtet, die bis hin zu schweren Mobbingfällen reichen. Dabei sind es in vielen Fällen die Gesprächskultur, fehlender Respekt und mangelnde Wertschätzung, die Aggressionspotenziale hochschaukeln und letztlich das Fass zum Überlaufen bringen. Jeder Einzelne trägt mit seinem Verhalten zur Deeskalation bei. Stefan bietet ent- sprechende Schulungen nicht nur im KAV, sondern an allen interessierten Kliniken bis hin zu extramuralen Berei- chen an.


Richtig reagieren

Aggressionen zu begegnen erfordert eine ganze Menge Feingefühl, Gelassenheit und Wissen um die wichtigsten Deeskalationsmechanismen. „Ich versuche, mit Empathie und Gefühl die Wogen zu glätten“, sagt Hausner, was auch in den meisten Fällen zum Ziel führt, aber eben nicht immer. Als Ursache vermutet der Ärztliche Leiter, dass die betreffenden Personen selbst großem Druck, Angst oder Stress ausgesetzt sind, es gebe aber auch Fälle, bei denen gewaltbereite Personen in Gruppen auftreten und ohne große Anlässe Drohungen aussprechen.

Wie die beste Reaktion auf Gewalt aussieht, wird eigens geschult. „Vor einigen Jahren gab es erste Deeskalations- trainings an unserem Krankenhaus. Vor Kurzem trat die Wiener Polizei an uns heran und bot verhaltensorientiertes Sicherheitstraining an. Das nehmen wir gerne wahr und werden ab Juli wieder unsere Mitarbeiter schulen“, berich- tet Hausner von den Sicherheitsmaßnahmen im Haus. Neben Verhaltensschulungen kommen Kameras und Sicher- heitsfachkräfte zum Einsatz, denn „in vielen Fällen reicht die Anwesenheit, ein Einschreiten ist oft gar nicht nötig“.

Deeskalationsexperte Stefan betont, dass die Art der Aggression höchst unterschiedlich sein könne – und danach richte sich auch die entsprechende Kompetenzschulung. „Ob Aggression geriatrischer Patienten gegen Ärzte oder von Angehörigen in der Kinderambulanz gegen Pflegepersonal erfordert unterschiedliche Lösungen. Die Auslöser sind wichtig und die Form der Interaktion ebenfalls“, erklärt Stefan. Es gehe meist nicht um Schuldfragen, sondern darum, was die Beteiligten leisten können, um die Lage zu entschärfen. „Wir können die Persönlichkeit der Aggres- soren nicht verändern, aber wir können unsere Interaktion verändern und so Situationen entscheidend beeinflus- sen“, sagt Stefan. „Wenn sich Menschen in Krisen befinden, was in der Ambulanz naturgemäß häufig der Fall ist, reichen individuell höchst unterschiedliche Schlüsselreize aus, um Aggression auszulösen. Kleinste Veränderungen der Umgebung – ein Hinweis, das Angebot eines Glases Wasser oder eine Nachfrage – ist dann oft der kleine Bei- trag, der deeskalierend wirkt.“ Meist beschäftigen sich Organisationen mit der sekundären Prävention, das ist jene, welche bei bereits vorhandener Eskalation zum Tragen kommt. „Genauso wichtig ist aber die Primärprävention, jene, welche Krisen erst gar nicht entstehen lässt“, sagt der Experte. Damit ist das Training von verbalen und non- verbalen Kommunikationsformen, die räumliche Gestaltung, die Auseinandersetzung mit dem Thema Sicherheits- kultur in der betrieblichen Einheit gemeint. Im Sinne der tertiären Prävention ist es ebenso notwendig sich Gedan- ken zu machen, was nach einem Vorfall zu tun ist. Durch einen gewalttätigen Vorfall traumatisierte Mitarbeiter benö- tigen besondere Maßnahmen, um das Erlebte verarbeiten zu können.

Klare Handlungsrichtlinien – je nach Art eines Vorfalls – sollen als Ablaufplan im Fall einer Eskalation dienen, um mittelfristig ein standardisiertes Unterstützungssystem im Sinne einer „Traumamappe“ oder „Vorgehensweisen bei gefährlichen Bedrohungen und Verletzungen“ zur Verfügung zu stellen. Im KAV wird daran gearbeitet. Stefan wünscht sich zudem, dass entsprechende Guidelines auch in das Studium integriert werden, damit Mitarbeiter von Anfang an mehr Sicherheit im Umgang mit Gewalt mitbringen. „Befragungen haben ergeben, dass die Studieren- den ohne entsprechende Vorbereitung in die ersten Praktika kamen und Aggression und Gewalt in Situationen erle- ben mussten, als sie helfen wollten. Ein Widerspruch!“, sagt Stefan.


Bauliche Maßnahmenals Primärprävention

Neben den entsprechend geschulten Reaktionen der Spitalsmitarbeiter sind es aber auch andere Maßnahmen, die nachweislich die Zahl der Konflikte reduzieren. So können bauliche Maßnahmen wie etwa die Vermeidung von „Sackgassen“ in großen Gebäuden, ausreichend Licht und Platz, zwei Ein- und Ausgänge pro Raum, Sicherheits- systeme für das Personal wie Notfallknöpfe oder stille Alarme und natürlich auch eine leicht verständliche Beschil- derung, die Angehörige und Patienten nicht zur Rückfrage zwingt, deeskalierend wirken. „Das ist mit ein Grund, warum die Planung von Kliniken nicht den Architekten alleine überlassen werden kann, sondern im Vorfeld den In- put von Mitarbeitern, den wirklichen Nutzern, benötigt“, erläutert Stefan die notwendige Schlussfolgerung. Der De- eskalationsmanager weiß auch als Bereichsleiter für Pflege in einer psychiatrischen Abteilung um den großen Effekt kleiner Änderungen, etwa von den richtigen Farben, ausreichend Licht, einer Ermöglichung von Privatsphäre oder sichtbarer Personalpräsenz für Patienten, wenn zum Beispiel Personal aufgrund von Visiten, Dienstübergaben oder Eingriffen anderweitig eingesetzt ist.

Freilich können auch bauliche Maßnahmen und allzeit verfügbare Ansprechpartner nicht alle Aggressionsquellen abfangen – Respekt, Wertschätzung und Begegnung auf Augenhöhe sowie entsprechend umsichtige Wortwahl, zum Beispiel auch die Vermeidung einer hierarchischen Sprache, sind Grundvoraussetzung für ein effektives Dees- kalationsmanagement. Das Bewusstsein, dass das eigene Verhalten maßgeblich zur Deeskalation beitragen kann, und die entsprechende Modifizierung der Verhaltens- und Sprachmuster ist aber jedenfalls die halbe Miete.  bw