Allerdings adressieren die wenigsten davon die gesamte Familie oder koordinieren unterschiedliche Angebote, obwohl solche „Komplexangebo- te“ als vielversprechend eingeschätzt werden. Zum Nutzen der Programme liegen kaum Daten vor. Es besteht ein erhebliches Forschungsdefizit. Schätzungen zufolge wächst jedes vierte Kind mit einem Elternteil auf, der punktuell oder längerfristig psychisch erkrankt ist. Diese Kinder haben ein deutlich erhöhtes Risiko, bereits im frühen Alter oder im späteren Leben psychisch zu erkranken. Es sind aber auch Schutzfaktoren bekannt, die eine transgenerationale Weitergabe psychischer Erkrankungen verhindern können, wie zum Beispiel soziale Schutzfaktoren durch Unterstüt- zung von Personen außerhalb der Familie oder durch stabile Bezugspersonen innerhalb der Familie.
Familienorientierte Komplexangebote
In den vergangenen 15 Jahren wurden international verschiedene präventive Angebote entwickelt, die an diesen Schutzfaktoren ansetzen. Die größten Erwartungen setzen Experten in sogenannte „familienorientierte Komplexangebote“. Das sind Ansätze, in denen verschiedene Hilfsange- bote je nach individuellem Bedarf zusammengeführt werden und bei denen die gesamte Familie auf unterschiedlichen Ebenen einbezogen wird. Forscher haben erhoben, dass im deutschsprachigen Raum weniger als 10 % (n = 46; Österreich: n = 3) aller 512 recherchierten Angebote als fa- milienorientierte Komplexangebote eingestuft werden können. Die meisten davon adressieren sechs- bis zwölfjährige Kinder und deren Eltern, un- abhängig von deren psychiatrischen Diagnosen. Im Vordergrund stehen Eltern- und Familiengespräche sowie Einzel- und Gruppengespräche für die Kinder. Über 90 % unterstützen Kinder im Umgang mit der elterlichen Erkrankung und versuchen, die kindlichen Ressourcen zu stärken. Zwei Drittel thematisieren auch das elterliche Erziehungsverhalten.
Bei mehr als der Hälfte der Angebote lag keine oder nur eine begrenzt aussagekräftige Evaluation vor. In mehreren Fällen wurde kein Evaluations- ergebnis publiziert. Bei jenen vier Angeboten, die mit einem robusten Evaluationsdesign bewertet wurden, wurden durchwegs positive Ergebnisse zu den durchgeführten familienorientierten Interventionen berichtet, wie zum Beispiel die Reduktion der psychischen Belastung und verbesserte Lebensqualität der Kinder oder verbesserte Krankheitsbewältigung der Eltern im Vergleich zur Kontrollgruppe. Allerdings gab es je nach Projekt nicht bei allen gemessenen Parametern Verbesserungen, wie etwa bezüglich des Wissens der Kinder über die psychische Erkrankung des Eltern- teils). Die Autoren der Studie fordern mehr Vernetzung zwischen Akteuren aus Wissenschaft und Praxis und überdies Forschungsstrukturen, die seriöse Evaluierungen ermöglichen. Aus ihrer Sicht braucht es noch wesentlich mehr konkretes Wissen darüber, welche Ansätze für wen und unter welchen Bedingungen wirksam sind, etwa differenziert nach verschiedenen psychiatrischen Krankheitsbildern der Eltern.
rh