REHABILITATION | PTSD
Komplexe Posttraumatische
Belastungsstörung nach ICD-11
FOTOS: REHAKLINIK MONTAFON
Die Folgen lang anhaltender Traumatisierungen sind durch eine hohe Komorbidität gekennzeich- net und stellen Patienten wie Behandler häufig vor große Herausforderungen.
Insbesondere in den letzten 15 Jahren hat die Psychotraumatologie im Bewusstsein der Behandler enormen Aufwind erfahren. Wie viele empirische Studien und die Be- handlungspraxis zeigen, ziehen traumatische Erlebnisse neben den klassischen Stressfolgeerkrankungen wie der Posttraumatischen Belastungsstörung auch eine Vielzahl von anderen psychischen Symptomen wie Angst, Depression und psychoti- sche Symptome nach sich. Ein durch chronischen Stress verursachtes inflammatori- sches Geschehen mit einer Verschiebung der Immunität zieht eine Häufung langfristi-
ger chronischer Erkrankungen nach sich, die zu einer um ein Drittel verkürzten Lebenszeit führen. Die Stressfolgeerkrankungen (Disorders asso- ciated with Stress [DAS]) wurden zu den meist gestellten Diagnosen im Gesundheitssystem.
Wenn Handlungspläne fehlen
In der Psychotraumatologie wird ein Ereignis vor allem dann als traumatisch bezeichnet, wenn es mit dem Erleben von Panik und Todesangst der Betroffenen einhergeht. Sie erleben ein Gefühl von Angst ohne Ausweg, von Ohnmacht und hilflosem Ausgeliefertsein, ohne Kontrolle über das Geschehen. In der überwältigenden Situation ist keine Integration des Erlebten möglich, weder auf emotionaler Ebene noch kognitiv, die Fähigkeit Gefühle zu regulieren bricht zusammen. Gedanken und körperliche Wahrnehmungen können nicht mehr adäquat assoziiert werden, sie werden in sensorische Fragmente dissoziiert. Die Betroffenen können nicht verstehen, was passiert, und keine geordneten Handlungspläne entwickeln. Durch unkontrollierbare, unerträgliche Emotionen kommt es zu einem Kippen aus der bedrohlichen Angst in Flucht, Kampf oder Erstarrung. In der Folge entsteht eine Unfähigkeit, aus diesen Erfahrungen zu lernen und Trigger lösen später diese Reaktionen immer wieder aus.
Die Posttraumatische Belastungsstörung (ICD-11: 6B40)
Eine akute Traumatisierung (Typ I Trauma) wie zum Beispiel ein schwerer Autounfall zieht bei circa einem Drittel der davon Betroffenen eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTSD) nach sich. Die Betroffenen klagen über sich aufdrängende Bilder und Gedanken, Geruchs- sensationen oder haptische Intrusionen, wobei es ihnen schwerfällt, zwischen Erinnerung und der augenblicklichen Realität zu unterscheiden. Eine nach einem Unfall betroffenen Patientin beschreibt beispielsweise: „Ich höre das Geräusch der Bergungsschere, das Knacken immer und immer wieder, ich rieche Feuer, ich komme mir vor wie im Film.“
Im Rahmen der Intrusion ist es für Patienten schwierig, zwischen „hier und jetzt“ und „dort und damals“ zu unterscheiden. Die inneren Bilder wer- den durch Trigger ausgelöst. Jede auftretende Intrusion wird als neuerlicher Kontrollverlust erlebt. Gleichzeitig entwickelt sich ein ständiges Ge- fühl der Bedrohung, immer in Gefahr zu sein. Die Betroffenen erscheinen angespannt, unruhig und aggressiv. Gleichzeitig vermeiden Betroffene Situationen, Orte oder Menschen, die an das belastende Geschehen erinnern. Dieses Vermeidungsverhalten kann sich chronifizieren und zu er- heblichen Einschränkung der Lebens- und Arbeitswelt führen.
Auch medizinische Behandlungen haben das Potenzial, zu einer traumatischen Erfahrung zu werden. Nicht selten berichten Patienten nach
Reanimation oder Behandlungen auf der Intensivstation von heftigen Intrusionen. 25 % der langzeitbeatmeten Patienten entwickeln eine PTSD, etwa 10 % der Leber- oder Lungentransplantierten zeigen Posttraumatische Symptome.
Komplexe PTSD (ICD-11: 6B41)
Um die Folgen einer lang anhaltenden, chronischen Traumatisierung (Typ II) beschreiben zu können, wurde im aktuellen ICD-11 die komplexe Posttraumatische Belastungsstörung in den Diagnosekatalog aufgenommen. Dem voraus ging eine Befragung von über 3.000 Psychiatern aus 46 Nationen, welche Diagnosen sie am meisten vermissten. Der größte diagnostische Mangel wurde bei den Folgen der chronisch anhaltenden Trau- matisierung (komplexe PTSD) konstatiert. Daraus folgend wurden die Stressfolgeerkrankungen mit der komplexen Posttraumatischen Belastungs- störung (KPTSD) als „Schwes-terdiagnose“ zur klassischen PTSD in das diagnostische Manual (ICD-11) eingeführt.
Die komplexe PTSD, die in der Regel nach lang anhaltender, vor allem durch Menschen verursachter Traumatisierung eintritt, ist neben den drei Kernsymptomen der PTSD (Intrusion, Vermeidung und das Gefühl von andauernder Bedrohung) durch eine als „Störung in der Selbstregulation“ („disturbances in in self-organisation“ (DSO)) bezeichnete Symptomatik definiert. Die DSO umfasst eine dysfunktionale Emotionsregulation, ein konstant negatives Selbstbild sowie Schwierigkeiten in zwischenmenschlichen Beziehungen. Die dysfunktionale Emotionsregulation kann sich in einer Unfähigkeit, angenehme wie unangenehme Gefühle zu empfinden, äußern, in oft nur schwer beherrschbaren Gefühlsausbrüchen und häufig in der Unfähigkeit, Ärger und Wut zu modulieren. Die fehlende Selbstfürsorge („Ich bin es nicht wert“, „Mir steht nichts Besseres zu“) und das mangelnde Vertrauen führen dazu, dass diese Patienten nur wenig und oft erst sehr spät ärztliche oder psychotherapeutische Hilfe in Anspruch nehmen.
S3-Leitlinien zur Behandlung
Im Rahmen der Überarbeitung der Behandlungsleitlinien der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften AWMF zur PTSD wurden neben einem Kapitel zur Behandlung von Kindern und Jugendlichen auch Behandlungsempfehlungen zur Therapie der komplexen Posttraumatischen Belastungsstörung (KPTSD) hinzugefügt. Aufgrund der noch jungen Diagnose gibt es derzeit wenig Therapiestudi- en, die eine endgültige Stellungnahme zur evidenzbasierten Behandlung der KPTSD erlauben.
Dennoch herrscht eine gewisse Einigkeit, dass eine erfolgreiche Therapie analog zur klassischen PTBS einer Exposition in sensu bedarf. Dabei haben sich drei Therapiestränge als wirksam erwiesen:
1. die Dialektisch-Behaviorale Therapie
2. das Skillstraining zur affektiven und interpersonellen Regulation (STAIR)
3. kognitiv-verhaltenstherapeutische Ansätze
Angesichts der komplexen Symptomatik scheint jedoch vor allem die therapeutische Beziehung als heilsame Beziehungserfahrung für diese Pati- enten essenziell. Das Unaussprechliche in Worte zu fassen und unerträgliche Spannungszustände zunehmend regulieren zu lernen, stellen weite- re wesentliche Entwicklungsschritte bei diesen Patienten dar.
Die Chancen der Rehabilitation
Die traumaadaptierte Therapie erfolgt in Phasen, denen die Rehabilitationsphasen (Phase II und III) der Behandlung sehr entgegenkommen. Der Expositionsbehandlung muss eine ausreichen- de Stabilisierung der Patienten vorausgehen. Sie müssen sich in der therapeutischen Bezie- hung sicher fühlen und ihre Emotionen ausreichend regulieren können, bevor sie mit der Bear- beitung des traumatischen Materials beginnen. Das Ziel der Stabilisierungsphase ist der Erwerb von Fähigkeiten, die unkontrollierbaren traumatischen Stress während der Exposition verhin- dern. Sehr häufig verlangt dieses Vorgehen längere therapeutische Prozesse, die idealerweise auch als Intervalltherapien konzipiert werden können. Die Kombination aus ambulanter rehabili- tativer Versorgung in enger Abstimmung und Kooperation mit stationären rehabilitativen Maß- nahmen stellen für diese Behandlung ideale Voraussetzungen dar.
Formen traumatischer Ereignisse
Traumatische Ereignisse werden nach
ihrer Dauer in lang anhaltende (chronische
Traumatisierung Typ II) oder kurz dauernde Ereignisse (akute Trauma- tisierung, Typ I)
Facts & Figures: Reha-Klinik Montafon
215 Betten, davon
• 81 Orthopädie
• 36 Kardiologie
• 36 Neurologie
• 62 Psychiatrie
ausschließlich Einbettzimmer
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Literatur bei der Verfasserin