medizin & recht | Judikatur-Update

OGH-Urteile 2016

Der Oberste Gerichtshof entscheidet mehrere Tausend Fälle im Jahr. Viele davon haben richtungsweisende Bedeutung in Zivil- und in Strafsachen – auch in der Medizin.

Untersagung der ärztlichen Berufsausübung bis zum rechtskräftigen Abschluss ei- nes Strafverfahrens

VwGH Ro 2014/11/0055


Ein gegen einen Arzt eingelei- tetes Strafverfahren wegen Ver- dachts des gewerbsmäßigen Betruges (hier: wegen unrecht- mäßiger Verrechnung von Leis- tungen gegenüber der Ge- bietskrankenkassa) muss die vorläufige Untersagung der ärztlichen Berufsausübung bis zum rechtskräftigen Abschluss des strafgerichtlichen Verfah- rens nach sich ziehen. Dabei kommt der Behörde kein Er- messen zu.

Berücksichtigung von Wartezeiten trotz Kassenplanstelle im Rahmen der Reihungskriterien

OGH 1 Ob 176/15m


Einen „Besetzungskampf“ für eine Kassenplanstelle führt ein Frauenarzt ge- gen die Wiener Ärztekammer und die Wiener Gebietskrankenkasse. Der Arzt hat eine Kassenplanstelle in Oberösterreich und bewarb sich für eine Planstel- le in Wien. Da der Arzt bereits eine Kassenplanstelle innehat, wurden ihm ent- sprechend der Reihungskriterien-Verordnung keine Punkte für Wartezeit zuge- sprochen. Diese Regelung bekämpfte der Arzt und der OGH gab ihm Recht: Es ist sachlich nicht gerechtfertigt, dass Punkte für Wartezeiten vergeben wer- den, wenn überhaupt keine ärztliche Tätigkeit ausgeübt wird, während Bewer- ber, die als Kassenärzte tätig sind und somit Erfahrung sammeln, keine Punk- te zugesprochen bekommen. Es ist daher fortan möglich, auch als Kassenarzt wieder Punkte für Wartezeit zu sammeln und sich zu gegebenem Zeitpunkt für eine andere oder „attraktivere“ Kassenplanstelle zu bewerben. Ob damit der Versorgungssicherheit, gerade in ländlichen Gebieten, Rechnung getragen wird, bleibt zu hinterfragen.

Kontrollpflicht des Arztes bei magistraler Zubereitung

OGH 4 Ob 42/16d


Die Klägerin wurde im Zuge einer Lokalanästhesie von einem HNO-Arzt an ihrer Nasenschleimhaut verätzt, weil die als Anästhetikum verwendete Pantocain-Lösung vom Apotheker statt mit destilliertem Wasser zu 96 % mit Al- kohol hergestellt wurde. Der Hinweis, dass es sich um eine Alkohollösung in hoher Konzentration handelt, wurde in etwa 1,6 mm großer Schrift auf die Flasche gedruckt. Diesen Hinweis hat der Arzt – wohl im Vertrauen auf die richtige Herstellung durch den Apotheker – jedoch nicht gelesen. Der Apotheker hatte den Arzt seit 2009 stets mit korrekt hergestellten Pantocain-Lösungen beliefert.

Die Vorinstanzen wiesen die Klage gegen den Arzt mit der Begründung ab, dass der Sorgfaltsmaßstab des Arz- tes nicht die Pflicht zur Prüfung der korrekten Herstellung eines seit Jahren von einer Apotheke ohne Beanstan- dung magistral zubereiteten Arzneimittels umfasse.

Der OGH hob die Entscheidung der Vorinstanzen auf und verurteilte den Arzt zur Zahlung von Schmerzensgeld. Das Gericht stützt sich dabei auf die Apothekenbetriebsordnung (ABO 2005), die Sicherheitsvorkehrungen für die Herstellung und Anwendung von Arzneimitteln regelt. Bei der Beschriftung des Arzneimittels fordert § 22 ABO 2005, dass dem Anwender alle notwendigen Informationen zur Verfügung gestellt werden (müssen). Dies dient – laut Gesetzgeber – auch dem Abbau von Risiken bei der Anwendung von Arzneimitteln. Auf Basis dieser rechtli- chen Gegebenheiten trifft den Arzt daher die Pflicht, vor der erstmaligen Anwendung eines Arzneimittels dessen Zusammensetzung zu prüfen, weil sich die Beschriftung des Arzneimittels an den Anwender richtet.

Prüft der Arzt somit vor der Anwendung des Arzneimittels das Etikett nicht, so verstößt er gegen seine ärztliche Sorgfaltspflicht und hat für den dadurch verursachten Schaden einzustehen. Der vom Arzt (als Sachverständigen im Sinne des § 1299 ABGB) einzuhaltende Sorgfaltsmaßstab wird durch die typischen und objektiv bestimmten Fähigkeiten eines Angehörigen des betreffenden Verkehrskreises bestimmt. Einem „typischen Arzt“ ist es leicht möglich, die korrekte Zusammensetzung des Arzneimittels mit seiner Verschreibung zu vergleichen. Dies über- spannt auch nicht seine Sorgfaltspflichten, so der OGH.

Rechtzeitigkeit der Aufklärung bei medizinisch nicht dringlichen Eingriffen

OGH 1 Ob 252/15p


Ein Arzt operierte den Kläger lege artis an der Hüfte, wobei der Eingriff nicht dringlich war. Postoperativ litt der Kläger unter erheblichen Schmerzen. Für diese Schmerzen begehrte der Kläger Schmerzensgeld, weil er nicht rechtzeitig über die Operationsrisiken aufgeklärt wurde. Das Gericht stellte fest, dass die Operation 18 Stunden nach der erstmaligen Aufklärung stattfand. Da der Eingriff nicht dringlich war, war die dem Kläger gewährte Über- legungsfrist von nicht einmal einem Tag zu kurz. Eine rechtswirksame Einwilligung kam daher nicht zustande.


Diese Entscheidung (die noch nicht rechtskräftig über die Haftung des Arztes absprach) zeigt abermals, dass ne- ben Art, Inhalt und Umfang der Aufklärung auch dem Überlegungszeitraum für eine rechtsgültige Einwilligung maßgebliche Bedeutung zukommt. Im Fall einer herkömmlichen Hüftgelenksoperation wurde die Aufklärung am Tag vor der Operation als rechtzeitig eingestuft, weil sich die Patientin nach einer zweitätigen Bedenkzeit für eine rund vierzehn Tage später erfolgte Operation entschied (7 Ob 64/11d). Der bloße nochmalige Hinweis auf dem Weg zum Operationssaal auf die Irreversibilität einer Eileiterunterbindung war deshalb ausreichend, weil die Auf- klärung der Patientin vier Wochen vor dem nicht medizinisch indizierten Eingriff stattfand (8 Ob 140/06f). Zu kurz ist die Bedenkzeit, wenn die Aufklärung über die Gefahr einer Narkose stattfindet, wenn schon alle Vorbereitun- gen für die Narkose getroffen sind und der Narkosearzt bereitsteht (7 Ob 15/04p). Ist die Bedenkzeit zu kurz, haf- tet der Arzt auch für die Folgen einer lege artis durchgeführten Operation.


Die höchstgerichtliche Judikatur in Österreich und Deutschland trifft keine einheitlichen Aussagen darüber, wie lange die Überlegungszeit jeweils bei den verschiedenen Eingriffen sein muss, betont aber, dass außerhalb von ästhetischen Operationen (bei denen die gesetzlich geregelte Überlegungszeit von zumindest zwei Wochen ein- gehalten werden muss) die Rechtzeitigkeit der Aufklärung von der Indikation, Schwere und Dringlichkeit der Ope- ration abhängt. Je schwerwiegender die Operation ist, desto länger muss die Bedenkzeit sein. Je medizinisch in- dizierter die Operation, desto kürzer darf die Bedenkzeit sein. Bei schwerwiegenden nicht akut medizinisch indi- zierten Operationen wird eine dreitägige Überlegungszeit als angemessen beurteilt.

foto: Fotolia/sebra

Autoren:

DDr. Karina

Hellbert, LL.M.,

Mag. Paul Kessler, LL.M.

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