MEDIZIN | Covid-Update 

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Die doppelte Pandemie

Welche Auswirkungen hat die Covid- 19-Pandemie auf Adipositas bei Kin- dern und Jugendlichen?

AUTOREN:

Dr. Julian Gomahr,

Univ.-Prof. Dr. Daniel Weghuber

Universitätsklinik für Kinder- und Jugendheilkunde, Uniklinikum Salzburg/Landeskrankenhaus, Uniklinikum der Paracelsus Medizinischen Privatuniversität, d.- weghuber@salk.at

www.younghope.at, www.adipositas.at

Am 11. März 2020 wurden Ausbruch und Verbrei- tung der Erkrankung Covid-19 vom Generaldirektor der Weltgesundheitsorganisation offiziell zur Pande- mie erklärt. Spätestens mit diesem Moment war der Öffentlichkeit bewusst, dass sich die Welt mit einem Ereignis historischen Ausmaßes konfrontiert sehen wird. In den folgenden Wochen wurden weltweit Maßnahmen zur Eindämmung implementiert, die ne- ben Empfehlungen zur räumlichen Distanzierung auch Ausgangsbeschränkungen und die Schließun-

gen von Betreuungs- und Bildungseinrichtungen zur Folge hatten. Diese beispiellose Gesamtsituation hatte großen Einfluss auf den Alltag von Kin- dern und ihren Familien.


Gesundheitssysteme belastet

Die Prävalenz von Adipositas im Kindes- und Jugendalter als chronische Erkrankung mit erheblicher Morbidität hat sich in den Jahren vor Beginn der Covid-19-Pandemie in einigen westlichen Staaten, nach Jahrzehnten des Anstiegs, auf hohem Niveau stabilisiert. Weltweit gesehen setzt sich der Trend jedoch vor allem in Ländern in Asien und Afrika fort. Daraus folgt sowohl eine starke sozioökonomische Belastung der Gesundheitssyste- me als auch eine individuelle morbiditätsbedingte Einschränkung der Lebensqualität.

Zahlreiche Studien haben allerdings während der Covid-19-Pandemie einen erheblichen Anstieg der Prävalenz von Adipositas und Übergewicht bei Kindern und Jugendlichen zeigen können. Eine österreichische Studie mit über 700 Volksschulkindern, ursprünglich als randomisiert-kontrol- lierte Intervention zu Ausdauer und Fitness konzipiert, konnte beispielsweise einen Prävalenzanstieg von Übergewicht und Adipositas von 20,7 % auf 26,2 % zwischen September 2019 und März 2021 feststellen.

In einer Untersuchung des deutschen Patientenregisters CrescNet mit über 150.000 Kindern wurden Baseline-Daten mit anthropometrischen Mes- sungen während der Pandemie verglichen und diese wiederum mit regelmäßigen Messungen in den Jahren zwischen 2005 und 2019 verglichen. Neben einem Prävalenzanstieg von Übergewicht und Adipositas ist besonders der Anteil an stark-positiver Gewichtsänderung (+ 0.2 Body Mass Index [BMI]-SD/Jahr) im Pandemiejahr bedeutend gestiegen. Dies scheint, speziell im Vorschulalter, mit einem erhöhten Risiko für die Entstehung und Persistenz von Adipositas in Verbindung zu stehen. Bei genauerer Betrachtung der Subgruppen treffen diese Änderungen vor allem Kinder im Vorschulalter und jene mit Übergewicht/Adipositas am stärksten.


Inaktivität steigt

Eine longitudinale Studie aus den USA hat ca. 150 Schulkinder seit 2018 begleitet und in sechswöchigen Abständen die körperliche Aktivität mit- tels Akkzelerometrie und Herzfrequenzreserve erhoben. Nach Pandemiebeginn konnte eine Abnahme der körperlichen Aktivität um 20 % und eine Zunahme der Zeit, die im Sitzen verbracht wird, um 40 % gemessen werden. Eine Italienische Arbeit konnte bei 77 Schulkindern zeigen, dass vor der Pandemie immerhin knapp 43 % die WHO-Empfehlung von 60 Minuten mittlerer bis intensiver körperlicher Aktivität täglich erreichen konnten, während es nach Beginn der Pandemie nur 12 % waren. Darüber hinaus wurde eine Zunahme von Zeit, die im Sitzen verbracht wird, im Ausmaß von 20 zusätzlichen Stunden pro Woche verzeichnet.  In einer Meta-Analyse konnte zudem eine Abnahme der körperlichen Aktivität bei Kindern während der Pandemie in 57 von 84 Studien gezeigt werden. Aggravierende Faktoren für diese Entwicklung sind der Arbeit zufolge unter anderem ein niedriger sozioökonomischer Status der Familie, niedriges Bildungsniveau der Eltern, eine Wohnsituation ohne Außenbereich, städtische Umge- bung und Migrationshintergrund.

Die Erhebung der Auswirkung auf das Ernährungsverhalten zeigt ambivalente Ergebnisse. Einerseits wurden ein höherer Obstkonsum und häufi- geres gesundes Kochen beschrieben, andererseits jedoch auch mehr Konsum von Snacks und gesüßten Getränken. Die Schwierigkeit der Analy- se ergibt sich auch aus der Datenerhebung, die mittels Fragebögen und oft retrospektiv stattfand. Zusätzlich dürften auch zahlreiche Faktoren, wie die finanzielle Situation der Familie und Betreuungssituation der Kinder, ausschlaggebend sein, inwieweit sich die Zeit der Pandemie positiv oder negativ auf das Ernährungsverhalten ausgewirkt hat.


Neue Therapiemöglichkeit

Aus globaler Sicht ist ein weiterer wichtiger Aspekt die Ernährungssicherheit, die gegeben ist, wenn Familienmitglieder nicht Hunger oder Unter- ernährung befürchten müssen. Um die Ernährungssicherheit zu gewährleisten, sind viele Familien auf das in Schulen zur Verfügung gestellte Mit- tagessen angewiesen, das durch Schulschließungen während der Pandemie-Maßnahmen wegfiel. Eine Untersuchung aus den USA, die eine 17- prozentige Reduktion von ernährungsgesicherten Haushalten feststellte, legt nahe, dass Schulschließungen und Einkommenseinbußen durch die Maßnahmen die Ernährungssicherheit vieler Familien reduzierten.

Zusammenfassend ist davon auszugehen, dass der veränderte Lebensstil im Rahmen der Pandemie zu einer Steigerung der Adipositasprävalenz bei Kindern und Jugendlichen geführt hat. Infolgedessen ist in den nächsten Jahren von einer höheren Morbidität in Zusammenhang mit Überge- wicht und Adipositas und assoziierten Erkrankungen und einem steigenden Versorgungsbedarf auszugehen.

Bislang sind Ernährung und körperliche Aktivität nicht nur wichtige Eckpfeiler der Prävention, sondern die Lebensstilmodifikation stellt auch unver- ändert das Fundament in der Therapie dar.

Mit der Zulassung von Liraglutid (Glukagon-like peptide 1, [GLP-1]-Analogon) durch die Europäische Arzneimittelagentur (EMA) im März 2021 wird jedoch nun auch der pharmakologischen Therapie ein zunehmend höherer Stellenwert beigemessen. Mit dem Medikament, das ab zwölf Jahren zur Verfügung steht, kann eine mittlere Reduktion des Body-Mass-Index von 5 % erwartet werden. Vor Kurzem konnte für eine weitere Substanz der GLP-1-Analoga-Klasse, Semaglutid, eine noch wesentlich größere Wirksamkeit bei Jugendlichen ab zwölf Jahren gezeigt werden (- 17 % BMI-Re- duktion im Vergleich zu Placebo).

Diese neuen Therapiemöglichkeiten könnten einen Paradigmenwechsel in der Adipositastherapie von Kindern und Jugendlichen bringen. Wichtig ist allerdings, dass diese Medikamente ausschließlich in Ergänzung zu einer begleitenden qualitätsgesicherten lebensstilmodifizierenden Verhal- tenstherapie zum Einsatz kommen dürfen. Derzeit gibt es ermutigende Signale vonseiten der Sozialversicherungen, das kürzlich entwickelte „Na- tionale Konzept zur Therapie von Übergewicht und Adipositas“ österreichweit auszurollen und damit flächendeckende Behandlungsstrukturen im ambulanten Setting zu schaffen. Flankierende präventive Maßnahmen mit Einbindung unterschiedlichster Entscheidungsträger und Strukturen wie Sozialversicherungen, Vereine, Schulen, Fachexperten und Politik sind zu- dem unverzichtbar, um eine Trendwende zu erreichen.

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