Ein gängiges Modell muskuloskelettaler Beschwerden beruht auf der Annahme selbstverstärkender Kreisläufe. Eine über länge- re Zeit bestehende erhöhte Muskelgrundspannung – zum Beispiel auf Grund seelischer Belastungen oder langandauernden Haltungsprovisorien – belastet Strukturen, wie zum Beispiel Gelenke, Bandscheiben, Bandapparat oder Muskeln in unphysiolo- gischer Weise. Die derart überlasteten Strukturen reagieren mit Schmerz, über einen längeren Zeitraum schließlich mit degene- rativen oder entzündlichen Veränderungen an den Insertionsstellen. Diese auch nun mehr strukturellen Veränderungen führen zu einer Erhöhung der Muskelgrundspannung durch Haltungsprovisorien und zu weiteren Schmerzen, sodass sich dieser Kreis- lauf immer weiter aufschaukelt. Durch die Schmerzen und den Verlust an Fähigkeiten verschlimmern sich die häufig schon vor- her bestandenen seelischen Erkrankungszustände. Dies verstärkt wiederum die Muskelgrundspannung und die Haltungsprovi- sorien, wie zum Beispiel einen gebückten Rücken oder einen steifen Nacken. Die seelische Deprivation führt zu Beeinträchti- gungen im sozialen Bereich: Verlust des Arbeitsplatzes, Belastung der Partnerschaft, verminderte Teilhabe an sozialen Aktivitä- ten (Siehe Abbildung 1).
Unerwünschte Wirkungen sehr selten
Physikalische Kombinationsbehandlungen aus dem Bereich der Thermo-, Mechano- und Elektrotherapie greifen direkt dämp- fend in die beschriebenen Eskalationskreisläufe ein. Sie sind, da ihnen physikalische Wirkmechanismen zu Grund liegen, weit- gehend frei von Wechselwirkungen mit Medikamenten – ein Umstand, der besonders bei älteren Patienten, die unter Medikation stehen, wichtig ist. Unerwünschte Wirkungen treten extrem selten auf, erst in Rahmen mehrerer 100.000 Behandlungssitzungen wird ein unerwünschtes Ereignis verzeichnet. Dabei handelt es sich dann meist um harmlose lokale Kontaktallergien oder zum Beispiel die Auslösung einer Panikattacke bei entsprechend prädisponierten Patienten. Zum Vergleich: In Beipacktexten von Medikamenten werden unerwünschte Wirkungen, die in einem von 10.000 Fällen auftreten, als „sehr selten“ eingestuft.Damit physikalische Kombinationsbehandlungen ihre volle Wirksamkeit entfalten können, bedarf es allerdings einer sorgfältigen Be- dachtnahme auf:
•Die Lokalisation der hauptauslösenden Strukturen der beschriebenen Eskalationskreisläufe
•Die Einschätzung des Eskalationsgrades und der Eskalationstreiber (Muskelgrundspannung, Reizzustand von Strukturen, Hal- tungsprovisorien)
•Das Stadium der Eskalation (akut, subakut, chronisch, rezidivierend)
•Das Vorliegen von Grund- und Begleiterkrankungen (zum Beispiel Herz-Kreislauf-System, psychische oder psychiatrische Er- krankungen, Hauterkrankungen, Allergien, Implantate oder aktive Medizinprodukte)
•Die Erhebung absoluter Kontraindikationen
•Die Beachtung des Patientenwillens Diskussion
Wie keine andere Therapieoption muss sich die Physikalische Kombinationsbehandlung gegen interessensgeleitete Argumenta- tionen behaupten. Liegt der Interessensschwerpunkt der betreibenden Person auf der medikamentösen Behandlung, wird auf angeblich nicht ausreichende Evidenzgrade der Wirksamkeitsnachweise von Physikalischer Therapiemodalitäten verwiesen. Naturgemäß ist bei Einwirkungen, für die Sinnesrezeptoren vorhanden sind, wie zum Beispiel Druck, Kraft, Wärme oder Elektrizi- tät, ein doppelblindes Setting nur erschwert möglich. Diese Haltung ist nicht verwunderlich, da 61 Prozent der Patienten, die sich wegen muskuloskelettaler Beschwerden einer Physikalischen Kombinationsbehandlung unterziehen, keinerlei Medikamen- te benötigen.1
Die wissenschaftliche Community hat diese Scheinargumentation mittlerweile erkannt, sodass die rezente Leitlinie 2018 zur Be- handlung des unspezifischen Rückenschmerzes der American Medical Association vorrangig nicht medikamentöse Behandlun- gen, wie Massage oder Wärmetherapie empfiehlt: „Recommendation 1: Given that most patients with acute or subacute low back pain improve over time regardless of treatment, clinicians and patients should select nonpharmacologic treatment with su- perficial heat (moderate-quality evidence), massage, acupuncture, or spinal manipulation (low-quality evidence)…
Recommendation 2: For patients with chronic low back pain, clinicians and patients should initially select nonpharmacologic tre- atment with exercise, multidisciplinary rehabilitation, acupuncture, mindfulness-based stress reduction (moderate-quality evi- dence), tai chi, yoga, motor control exercise, progressive relaxation, electromyography biofeedback, low-level laser therapy, operant therapy, cognitive behavioral therapy, or spinal manipulation (low-quality evidence). (Grade: strong recommendation)” 2
Auch die auf der Homepage des Bundesministeriums für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Konsumentenschutz publizierte Leit- linie zum unspezifischen Kreuzschmerz „Update der evidenz- und konsensbasierten Österreichischen Leitlinie für das Manage- ment akuter, subakuter, chronischer und rezidivieren-der unspezifischer Kreuzschmerzen 2018“3 empfiehlt unter 5-1: „Es ist wünschenswert, dass in der akuten Phase ein rascher und symptom-adäquater Beginn schmerztherapeutischer Maßnahmen erfolgt (siehe auch Kapitel 4.2 Grundsätze der Therapie unspezifischer Kreuzschmerzen). Dies umfasst nicht-medikamentöse Therapie wie Bewegungstherapie, Manuelle Medizin, kombinierte Physikalische Therapieformen, bei ausbleibendem Erfolg Aku- punktur, bei Chronifizierungsrisko Entspannungsverfahren (progressive Muskelrelaxation) und medikamentöse Therapie“ .4
Manche Personen, deren Handlungsschwerpunkt Bewegungstherapie ist oder die vorwiegend mit Physiotherapeuten kooperie- ren, argumentieren häufig, Physikalische Modalitäten aus dem Bereich Thermo-, Elektro- und Mechanotherapie seien lediglich „passiv“, währenddessen Bewegungstherapie als „aktive Maßnahme“ das einzig dauerhaft Wirksame sei. Diese offenkundig in- teressensgeleitete, für außenstehende Unkundige aber scheinbar plausibel klingende Argumentation, wurde von Konventen un- ter der Teilnahme des Lehrstuhles für Physikalische Medizin und allgemeine Rehabilitation der Universität Wien, der wissen- schaftlichen Fachgesellschaft für Physikalische Medizin und allgemeine Rehabilitation, sowie den Bundes- und Landesfach- gruppen und der Vertretung der Physikalischen Institute der Wirtschaftskammer als unrichtig deklariert.5
Tatsächlich gibt es im Bereich der Bewegungstherapie zahlreiche passive Verfahren, wie zum Beispiel das Aufdehnen von Kon- trakturen, während im Bereich der Modalitäten zahlreiche aktive Verfahren, wie zum Beispiel die Muskelstimulation existieren und eine wirksame Entschmerzung des Patienten durch Modalitäten Voraussetzung dafür ist, dass im schmerzarmen Bereich überhaupt eine Bewegungstherapie möglich ist.
Im Bereich der Prävention und Rehabilitation hingegen ist in allen Phasen Bewegungstherapie in Form von Einzeltherapie, Grup- pentherapie und geräteunterstützt essenziell, ebenso als Therapiebestandteil der Multimodalen Therapie von chronischen Schmerzpatienten.
Quellen:
1) Multicenterstudie: Crevenna R, Grestenberger W, Ammer K, Paternostro-Sluga T, Pourkarami A. Keilany MY, Pilowlisch-medizinischer Therapie- serien. Phys Med Rehab Kuror 2006; 16: 219-255
2) Chou R QA, Snow V, Casey D, Cross JT Jr, Shekelle P, Owens DK. Diagnosis and Treatment of Low Back Pain: A Joint Clinical Practice Guideli- ne from the American College of Physicians and the American Pain Society. Ann Intern Med. 2007:478-91
4) Update der evidenz-und konsensbasierten Österreichischen Leitlinie für das Management akuter, subakuter, chronischer und rezidivierender unspezifischer Kreuzschmerzen 2018–Kurzbezeichnung Leitlinie Kreuzschmerz 2018, Bundesministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Konsumentenschutz, Langfassung 1. Auflage, Version 1, 2018, Seite 41
5) Konvent der Fachärzte für Physikalische Medizin und Allgemeine Rehabilitation in Wien am 1.7.2016; www.oegpmr.at/wp-content/uploads/Be- richt-PMR-Konvent-III-f%C3%BCr-Z-Phys-Med-Version-24-9-2016.pdf