ADHS bei Erwachsenen

 

ADHS wird häufig als typische Erkrankung des Kindes- und Jugendalters wahrgenommen – dabei sind auch zahlreiche Erwachsene davon betroffen. Die Symptome bleiben jedoch bei Erwachsenen oft lange unentdeckt, da sie sich anders äußern als bei Kindern. 


AUTORINNEN:
Prof. MMag. DDDr. Ulrike Kipman, BSc
Professorin für Diagnostik und Bildungsforschung, Klinische Psychologin, Gesundheitspsychologin, Forensische Psychologin, Spezialisierungen Neuropsychologie, Kinder-, Jugend- und Familienpsychologie,
ukipman@yahoo.de
www.kipman.at

Samantha Barton, BSc
Masterstudentin der Psychologie


ADHS im Erwachsenenalter stellt eine multidimensionale Störung dar, deren klinische Relevanz und Ausprägung über die Lebensspanne hinweg erheblich variieren kann. Während ADHS traditionell als Störung des Kindes- und Jugendalters betrachtet wurde, zeigen aktuelle epidemiologische Daten eine Persistenz der Symptomatik bis ins Erwachsenenalter bei etwa 60 % der Betroffenen, wobei die Prävalenz im Erwachsenenalter international bei etwa 2 bis 4,5 % liegt. Die Prävalenz im Kindes- und Jugendalter liegt im Gegensatz dazu bei etwa 3 bis 7 %. Das Risiko für eine Persistenz der Störung bis ins Erwachsenenalter steigt insbesondere dann, wenn ungünstige psychosoziale Rahmenbedingungen vorliegen oder wenn bereits bei den Eltern eine ADHS-Diagnose besteht. Zusätzlich erhöhen Störungen des Sozialverhaltens, eine depressive Symptomatik und Angststörungen in der Kindheit die Wahrscheinlichkeit für persistierende ADHS-Symptome. 

Symptome und Verlauf 

Gemäß ICD-10 und DSM-5 wird ADHS als eine Entwicklungsstörung mit den Kernsymptomen Aufmerksamkeitsstörung, Hyperaktivität und Impulsivität klassifiziert. Darüber hinaus kann man drei Subtypen unterscheiden: vorwiegend unaufmerksamer Typ, vorwiegend hyperaktiv-impulsiver Typ und kombinierter Typ. Die Verteilung dieser Typen zeigt eine altersabhängige Verschiebung. Während im Kindesalter der kombinierte Typ dominiert, nimmt im Jugend- und Erwachsenenalter der unaufmerksame Subtyp deutlich zu. Die motorische Hyperaktivität tritt zunehmend in den Hintergrund und äußert sich häufiger als subjektives Unruhegefühl oder innere Anspannung, während Aufmerksamkeitsprobleme eher persistieren oder sich verstärken. Im Vordergrund stehen dann oftmals Desorganisation, Vergesslichkeit und Probleme mit Zeitmanagement und Disziplin, sowie auch emotionale Dysregulation und Affektlabilität.  Früher wurde angenommen, dass sich ADHS im Laufe des Lebens „auswächst“ und im Erwachsenenalter nicht mehr relevant ist. Mit der Einführung der ICD-10 wurde jedoch offiziell anerkannt, dass ADHS auch bei Erwachsenen diagnostiziert werden kann, wobei die hierfür verwendeten diagnostischen Kriterien dabei denen für Kinder und Jugendliche entsprechen. Ein aktuell noch bestehendes Problem ist allerdings, dass weder in der ICD-10 noch im DSM-IV spezifische Diagnosekriterien für Erwachsene definiert sind, was die Diagnosestellung in dieser Altersgruppe zwar erschwert, aber nicht verunmöglicht. Die ICD-11 wird erstmals klare und altersübergreifende Diagnosekriterien für ADHS anbieten, die explizit auch für Erwachsene gelten und die veränderte Symptomatik im Erwachsenenalter berücksichtigen. Unabhängig davon existieren aber schon jetzt valide Fragebogenverfahren und auch neuropsychologische Verfahren analog zu den Kinderverfahren, die es erlauben, auch für Erwachsene eine verlässliche Diagnose zu stellen. 

Herausforderungen, Problemfelder und Stärken 

ADHS ist mit zahlreichen Herausforderungen und Belastungen für Betroffene und ihr Umfeld verbunden. So zeigen sich bei Jugendlichen mit ADHS häufig schlechtere Schulnoten, ein hoher Bedarf an Nachhilfe (über 50 %) und eine erhöhte Sitzenbleiberquote von etwa 30 %. Auch die Schulabschlüsse fallen oft schlechter aus, was wiederum die Berufsaussichten beeinträchtigt. Im weiteren Verlauf sind Arbeits­losigkeit und die Teilnahme an Sozial- oder Erziehungsprogrammen häufiger zu beobachten. Zudem bekommen Betroffene öfter Kinder vor dem 20. Lebensjahr und erleben häufiger Scheidungen. Ein weiteres Problemfeld ist die erhöhte Anfälligkeit für Suchterkrankungen und kriminelles Verhalten – rund ein Drittel aller Haftstrafen betreffen Menschen mit ADHS. Ein weiterer Nachteil der Störung im Erwachsenenalter ist, dass ein chronischer Verlauf sehr wahrscheinlich ist. Im Erwachsenenalter tritt ADHS zudem häufig zusammen mit weiteren psychischen Erkrankungen auf, wie Depressionen, Angststörungen, Substanzgebrauchsstörungen oder Persönlichkeitsstörungen. Diese Komorbiditäten können die Lebensqualität zusätzlich beeinträchtigen. 

Andererseits verfügen Menschen mit ADHS über zahlreiche Ressourcen und Stärken, die im Alltag oft unterschätzt werden. Dazu zählen eine ausgeprägte Energie und Neugier, die sie antreiben, neue Wege zu gehen und sich auf Unbekanntes einzulassen. Ihre Risikobereitschaft, Fantasie und Kreativität ermöglichen es ihnen, innovative Lösungen zu finden und „out of the box“ zu denken. Auch ihre schnelle Auffassungsgabe und Anpassungsfähigkeit helfen ihnen, sich rasch auf neue Situationen einzustellen und Herausforderungen spontan zu meistern. Ein weiteres Merkmal ist die Fähigkeit zur Hyperfokussierung: Bei großem Interesse können sich Menschen mit ADHS über lange Zeiträume intensiv und konzentriert einer Aufgabe widmen und alles um sich herum vergessen. Diese Eigenschaften machen sie in geeigneten Bereichen zu kreativen, engagierten und leistungsfähigen Persönlichkeiten. 

Behandlung 

Trotz der vielfältigen Herausforderungen, mit denen Erwachsene mit ADHS konfrontiert sind, gibt es heute zahlreiche wirksame Behandlungsmöglichkeiten, die eine deutliche Verbesserung der Lebensqualität ermöglichen. Eine frühzeitige und fundierte Diagnose bildet dabei die Grundlage für einen individuellen Behandlungsplan, der medikamentöse und psychotherapeutische Ansätze ebenso umfasst wie alltagspraktische Strategien und gezielte Unterstützung im Berufsleben. Dazu zählen beispielsweise Nachteilsausgleiche, flexible Arbeitszeitmodelle oder angepasste Arbeitsplatzstrukturen, die auf die Bedürfnisse von Menschenmit ADHS zugeschnitten sind. Entscheidend ist, dass Betroffene und ihr Umfeld die Besonderheiten von ADHS verstehen und vorhandene Ressourcen gezielt nutzen. So kann es gelingen, die Potenziale von Menschen mit ADHS zu entfalten.


fotoS: daniela gruber, istockphoto/ SIphotography
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