Pacing als zentrale physiotherapeutische Maßnahme
Patienten mit komplexen Multisystemerkrankungen wie beispielsweise Long Covid erleben häufig einen langwierigen und belastenden Krankheitsverlauf, der verschiedene Organsysteme betrifft und die Lebensqualität erheblich einschränkt. Physiotherapeutische Interventionen können hier zur funktionellen Stabilisierung und Selbstkompetenz beitragen.
AUTOREN: Fachgruppe Komplexe Multisystemerkrankungen, Physio Austria
Kontakt: Sabine Schimscha, Landesverbandsvorsitzende Physio Austria Wien,
wien@physioaustria.at
Physiotherapie bietet gezielte, individuell angepasste Maßnahmen, die sowohl körperliche Funktionen verbessern als auch die Selbstwirksamkeit der Betroffenen stärken. Durch strukturierte physiotherapeutische Übungsprogramme, edukative Begleitung und Anleitung zur Selbsthilfe fördert die Physiotherapie die Gesundheitskompetenz der Patienten und auch der Angehörigen, die oft aktiv in den Alltag der Betroffenen eingebunden sind. Damit wird Physiotherapie zu einem zentralen Bestandteil eines interdisziplinären Behandlungsansatzes.
Betroffene erleben „Crash“
Seit der Covid-19-Pandemie hat sich die Zahl der Patienten mit lang anhaltenden Beschwerden nach viralen Erkrankungen deutlich erhöht. Ein häufiges klinisches Bild in diesem Zusammenhang ist das Chronische Fatigue Syndrom/Myalgische Enzephalomyelitis (ME/CFS), dessen Leitsymptom die sogenannte Post-Exertional Malaise (PEM) darstellt. PEM beschreibt eine ausgeprägte Verschlechterung bestehender Symptome oder das Auftreten neuer Beschwerden infolge körperlicher, kognitiver, emotionaler oder sensorischer Überlastung, oft ausgelöst durch Reize, die unter normalen Umständen als gering einzustufen wären. Im Gegensatz zu physiologischen Reaktionen wie Muskelkater handelt es sich bei PEM um eine pathologische Störung der Aktivitäts-Erholungs-Dynamik. In der Fachliteratur finden sich dafür auch Begriffe wie Post Exertional Neuroimmune Exhaustion (PENE) oder Post-Exertional Symptom Exacerbation (PESE). Betroffene sprechen häufig von einem „Crash“.
Die Belastungsschwelle, die zu PEM führt, ist individuell verschieden und kann selbst bei ein und derselben Person stark variieren. Für die physiotherapeutische Praxis stellt PEM eine besondere Herausforderung dar: Jegliche therapeutische Maßnahme muss zielgenau darauf ausgerichtet sein, eine Überlastung zu vermeiden. Das erfordert ein hohes Maß an Sensibilität, klinischer Erfahrung und ein tiefes Verständnis für die Symptomdynamik.
Zwischen Belastung und Erholung
Obwohl die Physiotherapie die virale Ursache von Long Covid nicht direkt beeinflussen kann, spielt sie eine zentrale Rolle in der Behandlung der daraus resultierenden funktionellen Einschränkungen, welche verschiedenste Körpersysteme betreffen können, darunter das Atemsystem, das Nervensystem, das muskuloskelettale System, das viszerale System sowie die psychische und mentale Gesundheit. Physiotherapeuten orientieren sich bei der Auswahl geeigneter Maßnahmen an einem strukturierten Clinical-Reasoning-Prozess. Dabei wird gemeinsam mit den Patienten eine Prioritätenliste erstellt, die die individuell wichtigsten Funktionsverbesserungen festlegt. Ergänzend zu ärztlichen Befunden unterstützt ein Untersuchungsalgorithmus die Triage der Behandlungsziele. Dieser umfasst unter anderem Fragen zu Lungenfunktion, Dyspnoe, Schmerzlokalisation, Erschöpfung, kognitiven Einschränkungen, sensorischen Veränderungen sowie zur emotionalen Verfassung.
Besondere Aufmerksamkeit gilt Patienten mit Belastungsintoleranz. Die evidenzbasierte Strategie der Wahl ist hier das Pacing, das darauf abzielt, Belastung und Erholung in einem individuell verträglichen Rahmen zu balancieren. Pacing kann die Symptome lindern und hat sich als zentrale Strategie zur Steuerung von Aktivität und Belastung etabliert. Ziel ist es, die meist stark eingeschränkten Energiereserven der Patienten so zu managen, dass es nicht zur Auslösung oder Verstärkung der Post-Exertional Malaise, dem Leitsymptom dieser Erkrankungen, kommt. PEM beschreibt eine verzögerte, teils massive Verschlechterung des Gesundheitszustands nach physischer, kognitiver, emotionaler oder sensorischer Überlastung, die oft erst 12 bis 72 Stunden nach der Belastung auftritt und Tage bis Wochen andauern kann. Die Herausforderung für Physiotherapeuten besteht daher darin, gemeinsam mit den Betroffenen eine individuell verträgliche Baseline zu definieren, das heißt, ein Aktivitätsniveau, das keine Symptomverschlechterung auslöst. Diese Baseline ist dynamisch und muss regelmäßig angepasst werden.
Energie richtig einschätzen
Praktische Hilfsmittel zur Umsetzung des Pacing-Konzepts sind Aufklärung und Visualisierung des Energiehaushalts (z. B. über Metaphern wie „Energiekonto“), Symptom- und Aktivitätstagebücher zur Identifikation von Triggern und Belastungsgrenzen, Herzfrequenzmonitoring (z. B. 60 % der anaeroben Schwelle oder Ruhepuls +15 bpm), Pulsoximetrie zur Kontrolle der Sauerstoffsättigung bei Belastung, regelmäßige Pausen und gezielte Entspannungsphasen, Priorisierung und Strukturierung von Alltagsaktivitäten, Zerlegung von Aufgaben in kleinere, bewältigbare Einheiten, Einsatz von Hilfsmitteln, z. B. Sitzgelegenheiten oder Duschhilfen zur Energieeinsparung. Mit zunehmender Erfahrung lernen viele Betroffene, ihre Energie besser einzuschätzen und zu managen. Besonders wichtig ist die Abgrenzung zur Graded Exercise Therapy (GET), die früher als Standard galt, heute aber nicht mehr empfohlen wird. Die kontinuierliche Steigerung körperlicher Aktivität – wie sie bei GET vorgesehen ist – kann bei Patienten mit Belastungsintoleranz zu irreversiblen Verschlechterungen führen. Aussagen wie „gehen Sie jeden Tag ein Stück weiter“ oder „nehmen Sie die Treppe statt des Lifts“ sind daher kontraindiziert. Werden diese Besonderheiten berücksichtigt, kann die Physiotherapie, insbesondere durch die Regulation des autonomen Nervensystems, einen wertvollen Beitrag zur Verbesserung der Lebensqualität bei komplexen Multisystemerkrankungen leisten. Physiotherapeuten begleiten diesen Prozess auf Augenhöhe mit dem Ziel, gemeinsam eine alltagsnahe, symptomangepasste Lebensgestaltung zu ermöglichen.
Die physiotherapeutische Betreuung bei Long Covid erfordert differenziertes klinisches Vorgehen. Durch individuell angepasstes Pacing kann Belastungsintoleranz gezielt begegnet werden, um funktionelle Stabilität zu fördern und Symptomverschlechterungen zu vermeiden.
FotoS: physio austria/Foto.org, istockphoto/ Paperkites