Physiotherapie im Wandel

Das MTD-Gesetz 2024 leitet für die Physiotherapie in Österreich neue Möglichkeiten ein, die sowohl den klinischen Alltag als auch die Weiterentwicklung des Berufsbildes prägen. 


 

AUTORIN:
Constance Schlegl, MPH

Präsidentin Physio Austria

 

AUTORIN:
Hannah Moser, BSc, BA

Physiotherapeutin, Soziologin und Assistentin der Geschäftsführung, Physio Austria,

www.physioaustria.at

 

Mit der nun gesetzlich klar definierten Abbildung des physiotherapeutischen Prozesses, der Einführung eines teilweisen Direktzugangs im Rahmen der Sekundärprävention sowie der formalen Verankerung von Spezialisierungsmöglichkeiten werden zentrale Weichen für eine qualitativ hochwertige, patientenzentrierte und interdisziplinäre Versorgung gestellt. Diese Neuerungen schaffen nicht nur mehr Sicherheit und fördern die Zusammenarbeit zwischen Ärzten und Physiotherapeuten, sondern eröffnen auch zusätzliche Optionen für eine effiziente Versorgungskette.



Der physiotherapeutische Prozess 

Mit dem MTD-Gesetz 2024 (MTDG) ist der physiotherapeutische Prozess gesetzlich verankert und als eigenständiger, strukturierter Behandlungsrahmen klar definiert. Der Prozess gliedert sich in vier Schritte: Befunderhebung inklusive Anamnese, Analyse, Assessments; Formulierung der physiotherapeutischen Diagnose; Therapieplanung unter Berücksichtigung aktueller Evidenz und individueller Zielsetzungen; Durchführung der Maßnahmen sowie Evaluation und Anpassung der Behandlung in Abhängigkeit vom Therapieverlauf. Die physiotherapeutische Diagnose ist dabei klar von der ärztlichen Diagnose abzugrenzen, da sie den funktionellen, bewegungs- und leistungsbezogenen Status der Patienten beschreibt und die Grundlage für eine gezielte physiotherapeutische Maßnahmen bildet. Darüber hinaus wurde das offiziell anerkannte Methodenspektrum erweitert: Sowohl die intramuskuläre Triggerpunkttherapie (Dry Needling) als auch der Einsatz von Echtzeit-Ultraschall sind nun als zulässige physiotherapeutische Maßnahmen gesetzlich festgeschrieben.


Generalanordnung und konkrete ärztliche Anordnung 

Das MTDG 2024 schafft eine klare und praxisorientierte Basis für die interprofessionelle Zusammenarbeit zwischen Ärzten und Physiotherapeuten und ermöglicht eine allgemeine ärztliche Anordnung zur Physiotherapie. Als sogenannte Generalanordnung „Physiotherapie“ kann diese ohne weitere Spezifikation einzelner Maßnahmen, Techniken sowie Behandlungsanzahl und -dauer ausgestellt werden. In diesem Fall liegt die Auswahl der geeigneten Maßnahmen sowie Behandlungsanzahl und -dauer in der eigenverantwortlichen physiotherapeutischen Kompetenz. Innerhalb des gesetzlich definierten physiotherapeutischen Prozesses kann dadurch patientenzentriert und evidenzbasiert entschieden werden, welche Maßnahmen, Behandlungsanzahl und Therapiedauer erforderlich sind. Dieser Handlungsspielraum ist von hoher klinischer Relevanz, da er eine zielgerichtete funktionelle Rehabilitation, insbesondere in komplexen oder dynamischen Krankheitsverläufen, fördert. Unverändert bleibt die Möglichkeit der konkreten ärztlichen Anordnung, bei der spezifische Maßnahmen, Anzahl der Behandlungen oder die Behandlungsdauer vorgegeben werden. 

 

Mit dem MTDG 2024 ist der physiotherapeutische Prozess gesetzlich verankert und als eigenständiger, strukturierter Behandlungsrahmen klar definiert.

 

Teilweiser Direktzugang im Rahmen der Sekundärprävention

Die Einführung eines teilweisen Direktzugangs zur Physiotherapie markiert einen relevanten Schritt in der Weiterentwicklung gesamtgesellschaftlicher Versorgungsstrukturen. Im Bereich der Sekundärprävention können Patienten nun ohne ärztliche Anordnung Physiotherapie in Anspruch nehmen. Eine Kostenübernahme durch die Sozialversicherung erfolgt jedoch ausschließlich bei Vorliegen einer ärztlichen Anordnung. Unter Sekundärprävention versteht man die frühzeitige Verhinderung einer Krankheitsprogression sowie die Stabilisierung bestehender Gesundheitszustände, die zuvor ärztlich diagnostiziert wurden. Damit können beispielsweise degenerative, muskuloskelettale oder neurologische Erkrankungen in einem stabilen Stadium gezielt funktionell unterstützt werden, bevor eine Verschlechterung klinisch relevant wird. Physiotherapeuten sind dabei gesetzlich verpflichtet, den Gesundheitszustand zu screenen, kontinuierlich zu überwachen und bei Anzeichen einer Verschlechterung ärztliche Abklärung einzuleiten. Dies erhöht die Patientensicherheit, stärkt die interdisziplinäre Zusammenarbeit und fördert eine durchgehend evidenzbasierte, hochwertige Versorgung. Internationale Vergleiche zeigen, dass ein teilweiser Direktzugang oder voller Direktzugang in fast 20 europäischen Ländern in unterschiedlichen Ausprägungen bereits etabliert ist. Studien belegen, dass dadurch signifikante Entlastungen für das Gesundheitssystem entstehen – sowohl hinsichtlich Kostenreduktion als auch durch die Verkürzung von Wartezeiten und der Steigerung der Versorgungsqualität.



Spezialisierung als Zukunftschance

Gezielte Spezialisierungen in der Physiotherapie eröffnen neue Möglichkeiten zur beruflichen Weiterbildung und tragen dazu bei, die Patientenversorgung bedarfsgerechter, effizienter und qualitativ hochwertiger zu gestalten. Diese sind nun im MTDG 2024 verankert. Für Ärzte und Patienten bietet eine klar ausgewiesene Spezialisierung einen entscheidenden Orientierungsrahmen. Physiotherapie mit ausgewiesenem Fachschwerpunkt – etwa in der Sportphysiotherapie, der Neurologie oder der Beckenbodentherapie – erlaubt einen zielgerichteten Einsatz von Physiotherapeuten. Um diese Transparenz zu sichern, ist ein gesetzlicher Bezeichnungsschutz für Spezialisten von zentraler Bedeutung, da er das Qualifikationsniveau klar sichtbar macht, die interprofessionelle Zusammenarbeit strukturiert und somit die Patientensicherheit erhöht.

Ein Pionierprojekt in diesem Bereich ist das von Physio Austria und dem Fachlichen Netzwerk GUP initiierte Pilotprojekt GUP (Gynäkologie, Geburtshilfe, Urologie, Proktologie). Ziel des Pilotprojektes war es, die physiotherapeutische Expertise im Bereich „Pelvic Health“ zu bündeln und strukturiert im Rahmen einer Spezialisierung weiterzugeben. Im Rahmen dieses Programms haben zehn Kolleginnen gemeinsam mit fünf Mentorinnen eine neuartige, auf klinische Spezialisierung ausgerichtete Qualifizierung durchlaufen. Das fachliche Netzwerk GUP entwickelte in diesem Prozess bereits 2017 ein umfassendes Kompetenzprofil für die Physiotherapie in der Gynäkologie, Geburtshilfe, Urologie und Proktologie, das als Grundlage für weiterführende Spezialisierungen diente. Darauf aufbauend entwarf Physio Austria ein dreistufiges Spezialisierungskonzept, angelehnt an international etablierte Karriere-, Entwicklungs- und Studienmodelle. Ein weiterer Meilenstein wurde mit der Entwicklung des CAS (Certificate of Advanced Studies) Pelvic Health gesetzt – ein berufsbegleitender Studiengang mit zunächst 30 ECTS und zwei Semestern Dauer, konzipiert in Kooperation mit der FH Joanneum in Graz. Damit wird nicht nur der Weg in Richtung einer akademisierten Spezialisierung geebnet, sondern auch den absehbaren Anforderungen nach universitären Qualifikationspfaden für klinische Spezialisierungen entsprochen.


fotoS: zvg, istockphoto/pixdeluxe
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