Prävention und Früherkennung
Lange Zeit fehlten in Österreich belastbare Daten zur Verbreitung von Diabetes mellitus und dessen Vorstufen. Nun liegen erstmals Ergebnisse groß angelegter Auswertungen vor.
Über 6,5 Millionen Nüchternblutzuckerwerte aus der Gesundenuntersuchung sowie aktuelle Prävalenzdaten aus Hausarztpraxen und Spitälern zeigen deutlich, wie hoch die Dunkelziffer nicht diagnostizierter Diabetesfälle in Österreich tatsächlich ist. Sie unterstreichen damit einmal mehr die Dringlichkeit frühzeitiger Erkennung und gezielter Prävention.
Gefährliches „Nichtwissen“
In einer der bislang größten Studien ihrer Art haben Forscher aus Oberösterreich systematisch den Blutzuckerwert (HbA1c) von über 3.000 erwachsenen Krankenhauspatienten untersucht. Das Ergebnis ist alarmierend: Mehr als jeder zweite Patient (51,5 %) litt an Diabetes oder einer Vorstufe davon, häufig, ohne selbst darüber Bescheid zu wissen, erst im Zuge der stationären Aufnahme wurde der Diabetes festgestellt. „Diese Zahlen zeigen, dass wir es mit einer weitgehend unerkannten Epidemie zu tun haben“, erklärt Studienleiter und Past-President der Österreichischen Diabetes Gesellschaft (ÖDG), Prim. Univ.-Prof. Dr. Martin Clodi.
Durchgeführt wurde die Untersuchung an drei Krankenhäusern in Linz und Gmunden. „Insgesamt 27,8 % der Patienten hatten manifesten Diabetes, bei weiteren 23,7 % fanden wir sogenannte Prädiabetes-Werte“, erklärt Clodi. Besonders häufig betroffen waren ältere Menschen: In der Altersgruppe zwischen 70 und 79 Jahren hatte sogar über ein Drittel der Patienten Diabetes. Bei 73 Patienten wurde der Diabetes erst im Rahmen des Krankenhausaufenthalts entdeckt. Sie kamen wegen ganz anderer Beschwerden, etwa wegen Herzproblemen oder Infektionen.
Enormer Handlungsbedarf
„Diese Daten sind ein Weckruf“, kommentiert ÖDG-Präsident Prim. Univ.-Prof. Dr. Peter Fasching und fordert: „Die flächendeckende Bestimmung des HbA1c-Wertes bei Spitalsaufnahmen muss zur Routine werden, wenn wir Versorgungslücken schließen und Folgeerkrankungen verhindern wollen.“
Die Studie zeigt auch einen engen Zusammenhang zwischen erhöhtem Blutzucker und anderen Erkrankungen: Herzschwäche, Bluthochdruck und Gefäßverkalkungen waren bei Menschen mit Diabetes oder Prädiabetes deutlich häufiger. „Das zeigt, wie wichtig eine frühzeitige Diagnose ist, da diese Erkrankungen durch Diabetes mitverursacht werden“, betont Clodi. Angesichts dieser Daten fordert die ÖDG die routinemäßige Bestimmung des HbA1c-Wertes bei allen Krankenhausaufnahmen. Dieser Langzeitblutzuckerwert kann frühzeitig Hinweise auf Diabetes oder Prädiabetes liefern – kostengünstig und zuverlässig.
(v.l.): Prim. Univ.-Prof. MR Dr. Peter Fasching, MBA, Präsident der ÖDG, Wien, Univ.-Prof. Dr. Harald Sourij, MBA, Stv. Vorsitzender der ÖDG, Graz, Priv.-Doz. Dr. Gersina Rega-Kaun, Erste Sekretärin der ÖDG, Wien, Prim. Univ.-Prof. Dr. Martin Clodi, Past President der ÖDG, Linz
Hohe Dunkelziffer
In einer Untersuchung der ÖDG wurden knapp 6.5 Millionen Nüchternblutzuckerwerte aus der Vorsorgeuntersuchung von den Jahren 2017-2023 ausgewertet und mit einer weiteren Studie der ÖDG, der AUSTRO-PROFIT Studie, die in allgemeinmedizinischen und internistischen Ordinationen in ganz Österreich durchgeführt wurde, verglichen. Diese zeigt, dass 7 % der Teilnehmer an bekanntem Typ-2-Diabetes leiden, während 3 % bislang unentdeckten Diabetes aufwiesen. Prädiabetes wurde bei rund 20 % festgestellt. „Auch diese Zahlen zeigen, wie wichtig eine Blutzuckerbestimmung, insbesondere bei Risikopersonen, wie etwa jenen mit Übergewicht, ist“, berichtet der Leiter der Studiengruppe und President elect der ÖDG, Univ.-Prof. Dr. Harald Sourij von der MedUni Graz. Diese Daten sind insbesondere von Relevanz, da bereits frühzeitig bei Menschen mit Typ-2-Diabetes Komplikationen auftreten können, wie Gefäßerkrankungen oder Nervenstörungen. Daten aus der AUSTRO-PROFIT Studie zeigen weiters, dass die gesundheitsbezogene Lebensqualität auch bei Menschen mit undiagnostizierten Zuckerstoffwechselstörungen reduziert ist.
Fokus auf Früherkennung
Die ÖDG hat die Studien maßgeblich unterstützt und sieht sich in ihrer Rolle als wissenschaftliche Gesellschaft bestätigt: Forschung, Früherkennung und Prävention müssen weiter gestärkt werden. „Gerade in der breiten Versorgung durch Hausärzte müssen wir den Fokus auf die frühzeitige Erkennung von Diabetes legen“, betont Priv.-Doz. Dr. Gersina Rega-Kaun, erste Sekretärin der ÖDG, und liefert weitere Daten, die das begründen: „Wie neueste Daten aus Dänemark zeigen, entwickelt jeder fünfte Mensch mit Prädiabetes in den nächsten fünf Jahren einen Diabetes. Bereits die vielzitierte Diabetes Prevention Program (DPP)-Studie mit 3.234 Teilnehmenden zeigte, dass Lebensstilveränderungen, also eine Gewichtsreduktion von mindestens 7 % und mindestens 150 Minuten Bewegung pro Woche, das Risiko für eine Diabetesmanifestation um 58 % senken können. In derselben Studie reduzierte Metformin das Risiko um 31 % im Vergleich zu Placebo.“
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