Neue Perspektiven auf Essstörungen

 

Die ICD-11-Codierung markiert einen bedeutenden Fortschritt im Umgang mit psychischen Erkrankungen, besonders im Bereich der Essstörungen. 


AUTORIN: Mag. Barbara Haid, MSc
Psychotherapeutin und Präsidentin Österreichischer Bundesverband für Psycho-therapie (ÖBVP)
www.psychotherapie.at


Für die psychotherapeutische Praxis bringt die neue Klassifikation mehr diagnostische Schärfe, klinische Passgenauigkeit und neue Handlungsspielräume. Auch bislang kaum beachtete Störungsbilder wie ARFID oder Orthorexie gewinnen an Sichtbarkeit – ein wichtiger Schritt hin zu mehr Versorgungsgerechtigkeit.

Essstörungen sind schwere psychosomatische Erkrankungen mit Suchtcharakter. Essstörungen sind zudem schwere „Beziehungsstörungen“ mit zugrunde liegenden „Bindungsstörungen“. Nicht das Essen an und für sich ist „gestört“, der Umgang damit ist meist „Mittel zum Zweck“, um die nicht vorhandene „Beziehung“ und „Bindung“ zum eigenen Körper sowie dem eigenen „Selbst“ herzustellen. Diese dysfunktionalen „Bewältigungsstrategien“ gilt es in der psychotherapeutischen Behandlung zu erkennen, zu benennen und schrittweise aufzulösen. Eine genaue Diagnostik am Beginn einer Behandlung ist daher von zentraler Bedeutung. Das ICD-11 liefert hierzu einige bedeutende Neuerungen:

Binge-Eating-Störung als offizielle Diagnose (6B82)

Im ICD-10 war die Binge-Eating-Störung (BED) unter den „nicht näher bezeichneten Essstörungen“ aufgeführt. Das ICD-11 erkennt sie nun als eigenständige Diagnose an – ein längst überfälliger Schritt. BED ist eine häufige Störung mit erheblichem Leidensdruck, die jetzt gezielter psychotherapeutisch behandelt werden kann.

Angepasste Kriterien bei Anorexia und Bulimia nervosa

  • Anorexia nervosa (6B0): Keine starre BMI-Grenze mehr – entscheidend ist ein „deutlich unterdurchschnittliches Gewicht“. Dies erlaubt frühere Diagnosestellung.

  • Bulimia nervosa (6B81): Die Frequenzkriterien wurden gelockert. Auch weniger häufige kompensatorische Verhaltensweisen sind nun diagnostisch relevant.
    Vorteil für die Praxis: Erhöhte diagnostische Sensitivität bei atypischen Verläufen, insbesondere im Jugendalter oder bei subklinischen Bildern.

Der Fokus in der Psychotherapie liegt auf der Emotionsregulation, dem achtsamen Essen, dem Aufbau von Selbstwert, der Entwicklung von Akzeptanz und Mitgefühl gegenüber dem Selbst und dem eigenen Körper, dem Aufspüren der dysfunktionalen Funktionen der Symptomatik und Adipositas-sensiblen Interventionen.

ARFID – neu im ICD-System (6B83)

Die Avoidant/Restrictive Food Intake Disorder (ARFID) ist eine Störung mit Vermeidung oder Einschränkung der Nahrungsaufnahme und nun offiziell im ICD-11 enthalten. Sie beschreibt eine selektive oder restriktive Nahrungsaufnahme ohne Körperbildstörung – häufig mit Angst vor bestimmten Texturen, Würgereiz oder sozialen Konsequenzen. Subtypen sind Angst vor negativen Folgen (z. B. Erbrechen), sensorische Sensitivität (z. B. Textur, Geruch) und Appetitlosigkeit oder Desinteresse an Nahrung. 

Um gravierende Folgen aufgrund der teilweise lebensbedrohlichen Ernährungsdefizite sowie aufgrund der zu erwartenden, nicht ausreichenden psychosozialen und psychosexuellen Entwicklung zu vermeiden, ist eine rasche Diagnostik sowie eine differentialdiagnostische Abgrenzung zu Autismus oder Zwangsstörung von elementarer Bedeutung. Der Fokus in der Psychotherapie liegt auf der multimodalen psychotherapeutischen Arbeit sowie der interdisziplinären Zusammenarbeit mit Medizin, Elternarbeit und Psychoedukation.

Orthorexia nervosa – die Schattenseiten „gesunder“ Ernährung (6B8Z)

Orthorexia nervosa zählt zu den Feeding or eating disorders, unspecified (Essstörungen, nicht näher bezeichnet). Orthorexie beschreibt eine übermäßige Fixierung auf gesunde Ernährung, verbunden mit Schuldgefühlen, sozialem Rückzug und körperlichen Folgen. Derzeit gibt es noch keine offizielle ICD-11-Diagnose, sie wird aber zunehmend als eigenes Störungsbild diskutiert, vor allem im Grenzbereich zu Zwangsstörungen und Essstörungen. 

Im Gegensatz zur Magersucht betrifft die Erkrankung auffallend viele Männer vor allem mit einer zwanghaft-perfektionistischen Grundstruktur, im Alter zwischen 30 und 40 und häufig auch in höheren Bildungsschichten. Das zwanghafte „Gesundessen“ wird als „Lebenshaltung“ zur zentralen Identität und Glaubensgrundsatz. Die Psychotherapie fokussiert sich auf das Bearbeiten von dysfunktionalen Glaubenssätzen, die Stärkung des Selbstwertes und der Selbstakzeptanz, die Identitätsentwicklung sowie ein Genuss- und Achtsamkeitstraining.

Fazit

Das ICD-11 erleichtert die Diagnostik von Essstörungen durch klinisch realistischere Kriterien. Besonders die Integration von ARFID schafft Raum für eine gezielte Behandlung vormals „unsichtbarer“ Patienten. Auch seltene Störungen wie Orthorexie fordern unsere diagnostische Sensibilität und ein breites psychotherapeutisches Repertoire. Für die psychotherapeutische
Praxis bedeutet das:

• Frühzeitige Erkennung und Intervention

• Individualisierte Behandlung statt starrem Störungsdenken

• Integration von Körper-, Ernährungs- und Beziehungsthemen

• Interdisziplinäre Zusammenarbeit mit Pädiatrie, Psychiatrie, Ernährungsberatung

Die Zukunft der Behandlung von Essstörungen liegt nicht nur in der Klassifikation – sondern im empathischen, informierten und kreativen Umgang mit oft komplexen und dynamischen Krankheitsbildern.

 

Essstörungen und Trauma – wenn der Körper zum Schauplatz wird

Mag. Ines Gstrein, Psychotherapeutin und ÖBVP-Präsidiumsmitglied

Zwischen Essstörungen und traumabezogenen Erfahrungen besteht in vielen Fällen ein relevanter Zusammenhang, insbesondere bei chronischen oder schwer behandelbaren Verläufen. Häufig finden sich in der Anamnese Hinweise auf emotionale, körperliche oder sexuelle Misshandlung, Vernachlässigung oder frühe Bindungsstörungen.

Essverhalten kann dabei eine psychische Kompensationsfunktion übernehmen, etwa zur Affektregulation, zur Wiederherstellung von Kontrolle oder zur körperlichen Abgrenzung. Der Körper wird zum Austragungsort innerer Spannungen.

Vor allem bei Anorexia nervosa, Binge-Eating-Störung und ARFID ist ein Zusammenhang mit Entwicklungstrauma oder Bindungsstörungen gut belegt. Eine fehlende Therapie-Response kann Hinweis auf einen traumabezogenen Hintergrund sein.

Für die Praxis bedeutet das: Essstörungen sollten nicht isoliert als Essverhaltensstörungen betrachtet werden. Komorbide Symptome wie Depression (F32/F33), Angststörungen (F41) oder dissoziative Phänomene (F44) können Hinweise auf tieferliegende Traumafolgestörungen sein. Eine traumasensible Anamnese, strukturierte Diagnostik und die Zuweisung in ein spezialisiertes psychotherapeutisches Setting sind empfohlen. Der interdisziplinäre Austausch ist dabei essenziell.

 

Essstörungen im Kindes- und Jugendalter: ein wachsendes Problem

Béa Pall, Psychotherapeutin und ÖBVP-Präsidiumsmitglied

Essstörungen gelten oft als Teenagerphänomen – doch zunehmend zeigen bereits Volksschulkinder auffälliges Essverhalten. Wählerisches Essen, rigide Rituale oder Schuldgefühle nach dem Essen sind frühe Warnzeichen. Besorgniserregend: Das Erkrankungsalter sinkt stetig. 

Neben Anorexie, Bulimie und Binge-Eating treten zunehmend auch vermeidend-restriktive Essstörungen (ARFID) auf – besonders bei jüngeren Kindern oder im Kontext neurodiverser Entwicklungen. Jungen sind hiervon häufiger betroffen als lange angenommen. 

Die Ursachen sind vielfältig: genetische Faktoren, familiäre Belastungen und soziale Medien, die schon Vorschulkinder mit Körperidealen und Diätbotschaften konfrontieren. Veränderungen im Essverhalten, auffällige Körperwahrnehmungen oder übermäßige Gewichtssorgen sollten ernst genommen und frühzeitig an spezialisierte Stellen weitergeleitet werden. Essstörungen sind keine vorübergehende „Phase“, sondern potenziell lebensbedrohliche psychische Erkrankungen. Eine frühe Intervention kann entscheidend sein!


fotoS: ricardo gstrein, istockphoto/ VectorMine
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