Periphere Nervenschädigung: Heraus-forderungen in Diagnostik und Versorgung

Polyneuropathien beeinträchtigen nicht nur die Lebensqualität durch Schmerzen, Taubheitsgefühle oder Gangunsicherheit, sondern erhöhen auch das Risiko für Stürze, Verletzungen und sekundäre Komplikationen wie chronische Wunden oder Infektionen.

 

„Die Behandlungskonzepte sind multimodal und entwickeln sich weiter.“ 

Univ.-Prof. Dr. Richard Crevenna, MBA, MSc, MSc

Die Polyneuropathie gehört zu den häufigsten Erkrankungen des peripheren Nervensystems und stellt in der hausärztlichen und fachärztlichen Versorgung eine große Herausforderung dar. Sie ist keine einheitliche Erkrankung, sondern ein Sammelbegriff für unterschiedliche Schädigungen mehrerer peripherer Nerven, die zu einem breiten Spektrum klinischer Symptome führen. Für die Praxis bedeutet das: Die Polyneuropathie erfordert eine sorgfältige Anamnese, eine differenzierte Diagnostik und ein strukturiertes Management – und zwar im interdisziplinären Zusammenspiel zwischen Hausärzten, Neurologen, Internisten und weiteren Fachgruppen. Die S3-Leitlinie „Diagnostik und nicht medikamentöse Therapie der Polyneuropathie“  der DGN (2021) sowie die Empfehlungen der  European Academy of Neurology (EAN)  bilden die Basis für die evidenzbasierte Versorgung.




Prävalenz nimmt deutlich zu

Polyneuropathien treten in allen Altersgruppen auf, sind jedoch vor allem im höheren Lebensalter häufig. Studien zeigen, dass bis zu 8 % der Bevölkerung über 55 Jahren betroffen sind. Männer erkranken etwas häufiger als Frauen. Besonders relevant ist die Polyneuropathie im Kontext von anderen Grunderkrankungen. In westlichen Industrieländern ist zum Beispiel die diabetische Polyneuropathie die häufigste Form: Bis zu 50 % der Patienten mit Diabetes entwickeln im Krankheitsverlauf eine periphere Nervenschädigung. Chronischer Alkoholabusus ist weltweit eine der führenden Ursachen an Polyneuropathien zu erkranken. Auch eine Reihe zytotoxischer Medikamente führten zu dosisabhängigen neurotoxischen Nebenwirkungen. Chronische Niereninsuffizienz, Lebererkrankungen, Vitaminmangelzustände (B1, B6, B12, Folsäure), Infektionen (HIV, Borreliose, Hepatitis) und Autoimmunerkrankungen sind weitere relevante Ursachen.

 

Gangunsicherheit und Sturzrisiko

Die klinische Symptomatik einer Polyneuropathie ist stark davon abhängig, welche Fasertypen im peripheren Nervensystem primär betroffen sind. Im Vordergrund stehen häufig sensible Störungen. Patienten berichten zunächst über Parästhesien, die Missempfindungen wie Kribbeln, Ameisenlaufen oder ein „eingeschlafenes“ Gefühl in Füßen oder Händen. Diese Empfindungen können in Dysästhesien übergehen, die von den Betroffenen als brennend, stechend oder elek-trisierend beschrieben werden. 

Mit fortschreitender Erkrankung treten Taubheitsgefühle auf, die nicht selten mit einem Verlust des Vibrationsempfindens einhergehen. 

Sind motorische Fasern betroffen, entwickeln die Patienten eine distale Muskelschwäche, die sich klinisch zunächst in Schwierigkeiten beim Gehen, Treppensteigen oder Heben kleiner Lasten äußern kann. Im weiteren Verlauf kommt es zu Muskelatrophien, die besonders an den Unterschenkeln und Füßen sichtbar werden. „Die Sturzgefahr resultiert aus der eingeschränkten Koordination und  Balancefähigkeit, unter anderem durch die Schädigung sensibler Fasern als Teil  des sensomotorischen Systems“, sagt Univ.-Prof. Dr. Richard Crevenna, MBA, MSc, MSc, Vorstand der Universitätsklinik für Physikalische Medizin, Rehabilitation und Arbeitsmedizin im Wiener AKH.

Die Beteiligung vegetativer Nervenfasern äußert sich in einer Vielzahl von Symptomen, die für die Betroffenen besonders belastend sein können. Dazu gehören Kreislaufprobleme mit orthostatischer Hypotonie, die sich durch Schwindel oder Synkopen bei Lagewechsel bemerkbar machen. Auch Blasenfunktionsstörungen mit Restharnbildung oder Inkontinenz, gastrointestinale Beschwerden wie Obstipation oder Diarrhoe sowie sexuelle Dysfunktionen können auftreten und die Lebensqualität erheblich einschränken.

Ein zentrales Leitsymptom vieler Polyneuropathien ist der Schmerz. Bis zu 30 % der Patienten entwickeln neuropathische Schmerzen, die typischerweise als brennend, stechend oder einschießend beschrieben werden (Tesfaye et al., Diabetologia 2011). Diese Schmerzen können sowohl in Ruhe als auch belastungsabhängig auftreten und gehen nicht selten mit Schlafstörungen, Erschöpfung und depressiver Symptomatik einher. Gerade weil Schmerzen von Betroffenen oft als das belastendste Symptom empfunden werden, kommt ihrer frühzeitigen Erkennung und leitliniengerechten Therapie eine besondere Bedeutung zu.



Bedeutung für die Versorgung

Für das Gesundheitssystem bedeutet die Polyneuropathie eine hohe Belastung – sowohl hinsichtlich Kosten als auch bezüglich Langzeitversorgung. Chronische Schmerzen, Mobilitätseinschränkungen und Folgeerkrankungen machen eine enge Zusammenarbeit verschiedener Fachgruppen erforderlich. Der Hausarzt übernimmt eine wichtige Rolle, denn er initiiert die Basisdiagnostik, stellt Überweisungen aus, begleitet die Patienten langfristig und überwacht die Therapieadhärenz. Gerade bei älteren Patienten ist er eine zentrale Drehscheibe im Hinblick auf die Früherkennung von Gangunsicherheiten, Wunden oder autonomen Komplikationen. „Die Behandlungskonzepte sind  multimodal und entwickeln sich weiter. Neue Ansätze betreffen die  Neuroprotektion und -regeneration mit physikalischen Modalitäten,  regenerative Therapien mit Stammzellen sowie individualisierte Strategien für die Schmerztherapie“, erklärt Crevenna. Auch digitale Lösungen wie Telemonitoring und KI-gestützte Diagnostik könnten künftig die Versorgung verbessern.



rh

 

5. Informationstag der Selbsthilfe Polyneuropathie


27.10.25, ab 14 Uhr

ÖGB-Haus Katamaran, Johann-Böhm-Platz 1, 1020 Wien

Info und Anmeldung: Verein Selbsthilfe Polyneuropathie, Tel. 0677 617 856 71, kontakt@selbsthilfe-polyneuropathie.at

Ärztlicher Fortbildungsanbieter:  AKH Wien, Univ. Klinik für Physikalische Medizin, Rehabilitation und Arbeitsmedizin 


Die Veranstaltung ist mit 5 DFP-Punkten approbiert


Foto: feelimage/matern, istockphoto/ Fertnig
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