Vom Eigenheim ins Pflegeheim?

Betrachtet man das „Altern“ in unserer heutigen Zeit, so gibt es hier viele Veränderungen hinsichtlich der Sichtweise der Lebensgestaltung. 


AUTORIN:
Mag. Felicitas-Maria Jakobsen
 

Klinische und Gesundheits-psychologin mit den Spezialisierungen Neuro- und Gerontopsychologie

office@praxis-jakobsen.at

AUTOR:
Univ.-Doz. Dr. Gerald Gatterer

Klinischer und Gesundheitspsychologe, Psychotherapeut, Leiter des Instituts für Alternsforschung SFU Wien

gerald@gatterer.at

www.sfu.ac.at


Die Traditionalisten oder „Generation Silent“, geboren zwischen 1922 und 1945, haben den Zweiten Weltkrieg oder die direkte Nachkriegszeit in ihrer Kindheit und Jugend miterlebt. Leistung ist dieser Gruppe sehr wichtig. Sie haben Vertrauen durch Familie, Freunde und Bindung gelernt. Diese Gruppe ist durch die neuen Lebensphilosophien mit der Digitalisierung aller Lebensbereiche, neue Beziehungsformen oder die Auflösung traditioneller Werte und Normen stark gefordert. Hier sehen wir auch starke Unterschiede in der Bewältigung, die vom Verharren in traditionellen Mustern und oft Ärger und Depressivität sowie Resignation bis zu den neuen, dynamisch jungen Alten (Silver Generation) mit neuen Lebensphilosophien, Selbstverwirklichung im Alter und Autonomie reichen. Bei der Betreuung im Alter ist diese Personengruppe auch noch an traditionellen Versorgungsstrukturen wie Pflegeheim und Familienbetreuung orientiert.


Autonomie und Selbstbestimmung

Die Babyboomer, geboren zwischen 1946 und 1964, waren die erste Nachkriegsgeneration nach dem Zweiten Weltkrieg. Sie haben das Wirtschaftswunder erlebt und gehören zu den geburtenreichsten Jahrgängen. Leistung und Aufbau sowie Karriereorientierung waren ihnen wichtig. Vertrauen in das Leben hatten sie durch die eigenen Fähigkeiten, durch eigene Erfahrungen, Regeln und Normen. Der Alterungsprozess ist hier wesentlich dynamischer, offener und selbstbestimmter. So wie auch Beziehungen. Hier stehen Selbstverwirklichung und Autonomie im Alter im Vordergrund. Traditionelle Werte und Normen sind zwar bekannt, werden aber oft zugunsten von neuen, genussorientierten und ich-orientierten Mustern aufgegeben. Scheidungen und neue Paarbeziehungen sind in dieser Generation sehr häufig. Hier spricht man oft auch von einem zweiten oder dritten Aufbruch. Weisheit und Lebenserfahrung werden durch neue Lebensphilosophien wie Spaß, Lust, Freude und Selbstbestimmung ersetzt. Altern ist hier auch kein Prozess des Erduldens und Erleidens, sondern der autonomen, selbstbestimmten Gestaltung. Das gilt auch für die Versorgung im Alter, die stark auf den Verbleib zu Hause und Autonomie bis zuletzt ausgerichtet ist. Die neuen Gesetze wie die Patientenverfügung, die Sterbeverfügung, das Erwachsenenschutzgesetz oder die Vorsorgevollmacht unterstützen diesen Prozess. Pflegeheime und Versorgungsstrukturen müssen sich darauf einstellen. Die Digitalisierung unterstützt diesen Prozess und wird von dieser Gruppe auch bereits gut angenommen.


Individualisierung im Fokus

Die Generation X, geboren zwischen 1965 und 1979, auch „Generation Golf“ genannt, wurde in ihrer Kindheit stark durch die Wirtschaftskrise und eine aufkommende Scheidungsrate geprägt. Normen werden weniger wichtig, Beziehungen häufig hinterfragt. Klassische Rollenbilder und Familienstrukturen lösen sich vermehrt auf und sind für diese Gruppe auch nicht mehr so interessant. Dafür werden Individualität und Selbstverwirklichung wichtiger. Die Generation Y, geboren zwischen 1980 und 1993, auch „Gen Y“ oder „Millennials“ genannt, haben die Jahrtausendwende schon bewusst erlebt und bekamen auch den Internetboom und die Globalisierung in vollen Zügen mit. Sie zeichnen sich im Gegensatz zu den Vorgängergenerationen durch ein hohes Bildungsniveau aus und sind weniger bindungsorientiert. Sie sind bei Veränderungen bereits wesentlich autonomer und „ich-orientierter“. Die Generation Z, geboren zwischen 1994 und 2010, auch „Generation YouTube“ genannt, hat die Digitalisierung des Alltags bereits komplett in ihr Leben integriert. Vertrauen entsteht durch Likes, Online-Empfehlungen, Bewertungen und Rankings. Beziehungen werden offener, sind ein „Zwischending“, bis etwas Besseres kommt. Diese Generation kommt zwar selten in ein Heim, jedoch haben viele „junge Alte“ diese neuen Lebensstile übernommen. Sie haben deshalb auch ganz andere Erwartungen an das Altern und die Betreuungsstrukturen. Hier werden zum Beispiel Demenzdörfer oder die 24-StundenBetreuung immer wichtiger.


Übergänge mit Nebenwirkungen

Mit der Bewältigung von Lebensaufgaben gehen diese Generationen sehr unterschiedlich um. Nehmen in der Generation der Menschen über 65 depressive Verstimmungen und demenzielle Erkrankungen sowie die Auseinandersetzung mit der Endlichkeit des Lebens zu, so stehen in den anderen Generationen die Auseinandersetzungen mit einer Veränderung der Arbeitssituation, von Rollenbildern, Beziehungen und Lebensaufgaben sowie Optimierungsprozesse (Körper, Beziehungen, Einkommen, Gesundheit) im Vordergrund. Insofern ist die Behandlung auf diese Bereiche fokussiert.

Obwohl viele ältere Menschen den Wunsch äußern, möglichst lange zu Hause zu bleiben, wird der Umzug ins Pflegeheim häufig durch akute gesundheitliche Ereignisse oder Überforderung im häuslichen Setting notwendig. Dieser Schritt erfolgt in der Regel nicht geplant, sondern krisenhaft – mit erheblichen Auswirkungen auf die psychische Gesundheit. Laut Gesundheitsministerium lebten 2022 in Österreich rund 96.200 Menschen in Pflegeheimen. Die Verlagerung des Lebensmittelpunkts vom gewohnten Zuhause in eine stationäre Pflegeeinrichtung ist weit mehr als ein logistischer oder organisatorischer Akt. Für viele ältere Menschen bedeutet dieser Schritt den Verlust der letzten Lebensautonomie, und er markiert einen der sensibelsten Übergangsprozesse im Alter. Studien zeigen, dass bis zu 30 % der neu eingetretenen Pflegeheimbewohner in den ersten Monaten Symptome einer depressiven Episode entwickeln. Doch nicht immer wird diese frühzeitig erkannt oder überhaupt richtig eingeordnet.

Depressionen im Alter werden häufig bagatellisiert oder fälschlich als „altersentsprechende“ Reaktion auf Verlust, Krankheit oder Isolation interpretiert. Gerade im Zusammenhang mit einem Umzug ins Pflegeheim – der oft unter Zeitdruck, gesundheitlicher Instabilität und familiärer Überforderung stattfindet – wird die psychische Dimension dieses Übergangs unterschätzt. Der Blick richtet sich primär auf pflegerische Versorgung, medizinische Diagnosen und organisatorische Abläufe. 

Zentrale Risikofaktoren für die Entstehung depressiver Symptome in diesem Kontext sind vorbestehende psychische Belastungen, kognitive Einbußen, mangelnde soziale Unterstützung sowie das subjektive Erleben von Kontrollverlust und Einsamkeit. Auch das Gefühl, „abgeschoben“ worden zu sein oder der Verlust geliebter Menschen, von Alltagsroutinen und der vertrauten Wohnumgebung wiegt schwer. Der Umzug selbst ist dabei nicht nur ein räumlicher, sondern ein emotionaler Einschnitt: Die Schwelle ins Pflegeheim bedeutet für viele das Ende der gefühlten Selbstbestimmung.


Symptome und diagnostische Herausforderungen

Die Symptome einer Depression nach einem Umzug ins Pflegeheim ähneln auf den ersten Blick klassischen Alterserscheinungen: Antriebslosigkeit, Schlafstörungen, Appetitverlust und kognitive Verlangsamung sind häufig. Ebenso klagen Betroffene über ein ausgeprägtes Gefühl der Hoffnungslosigkeit, Wertlosigkeit und eine verminderte Lebensfreude. Problematisch ist die diagnostische Abgrenzung zur sogenannten Pseudodemenz – einer depressionsbedingten, reversiblen kognitiven Beeinträchtigung – sowie die Differenzierung zu prodromalen Stadien demenzieller Erkrankungen. Häufig werden depressive Symptome übersehen oder als unvermeidlicher Teil des Alterns fehlgedeutet. Ein strukturiertes geriatrisches Basis­assessment, ergänzt durch standardisierte Depressionsscreenings (z. B. Geriatrische Depressionsskala, GDS), ist unerlässlich. Dabei sollten insbesondere subtile emotionale Symptome wie Reizbarkeit, Rückzug, Ängstlichkeit und somatische Beschwerden beachtet werden, die bei älteren Patienten häufig im Vordergrund stehen.


Risikofaktoren und Pathophysiologie

Der Verlust des Eigenheims bedeutet vielfach den Verlust der eigenen Lebensgeschichte und Identität. Der plötzliche Abbruch gewohnter sozialer Netze, das Eingliedern in eine fremde institutionelle Struktur und die emotionale Verarbeitung einer als endgültig empfundenen Abhängigkeit stellen massive Belastungen dar. Der Umzug bzw. die Relokation in eine Langzeitpflegeinstitution verläuft laut Kao et al. (2004) in drei Phasen, wobei jede Phase ihre spezifischen Herausforderungen, aber auch Interventionsmöglichkeiten birgt: Die Phase der Präinstitutionalisierung, der Transition und der Postinstitutionalisierung. Die erste Phase bezieht sich auf die Zeit vor bis ca. ein bis zwei Wochen nach dem Umzug und umfasst Aufgaben wie die Auswahl einer passenden Einrichtung, aber auch die Klärung rechtlicher und finanzieller bzw. Eigentumsfragen. Die zweite Phase oder die sogenannte Transitionsphase dauert ca. drei Monate und ist durch eine hohe psychologische Vulnerabilität bzw. durch das „Relokationsstresssyndrom“ mit Anpassungsschwierigkeiten bis zu schweren emotionalen Krisen gekennzeichnet. Bezugnehmend auf ihr Reaktionsmuster unterscheidet man dabei zwei Personengruppen: die „resignierten Widerständler“, die auf den Stress mit Rückzug, Traurigkeit und Hilflosigkeit reagieren, und die „zwanghaften Widerständler“, die sich wütend, misstrauisch oder unkooperativ zeigen. In der dritten Phase, der Postinstitutionalisierungsphase, die rund ein Jahr dauert, findet die langfristige Anpassung Betroffener statt, die je nach Bewältigungsressourcen entweder in eine gesunde Neuorientierung oder in eine gesundheitliche Verschlechterung mündet. 

 
 
 
 

Übergänge brauchen besondere Aufmerksamkeit

Eine Demenzerkrankung und die damit einhergehenden Folgen sind einer der häufigsten Gründe für die Aufnahme in eine Langzeitpflegeeinrichtung. Aktuellen Schätzungen zufolge leben in Österreich ca. 85 bis 90 % der Bewohner dieser Einrichtungen mit einer Form der Demenz. Bei Menschen mit Demenz gestaltet sich der Übergang besonders sensibel. Die veränderte Umgebung, neue Gesichter und der Verlust gewohnter Bezugspunkte können zu massiver Desorientierung und Unruhe führen. Verhaltensauffälligkeiten, sogenannte „herausfordernde Verhaltensweisen“, sind in dieser Phase keine Seltenheit. Auch hier sind die ärztliche Beobachtung und Zusammenarbeit mit Pflegekräften entscheidend, um individuelle Bedürfnisse zu erkennen und Überforderung zu vermeiden. Eine demenzsensible Kommunikation, bekannte Gegenstände aus der Wohnung sowie strukturierende Tagespläne können den Übergang erleichtern.



Fazit und praktische Empfehlungen

Der Umzug ins Pflegeheim ist ein vulnerabler Moment im Lebenslauf älterer Menschen. Für Ärzte bedeutet dies, nicht nur körperliche Beschwerden zu behandeln, sondern seelische Belastungen frühzeitig zu erkennen und gemeinsam mit anderen Berufsgruppen angemessen zu intervenieren. 


FotoS: zvg, istockphoto/ daniel megiias
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